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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Geschichte mit den Liebesbriefen zum Beispiel. Wo ziehst du die Grenze? Deine hohe Achtung vor den Geheimnissen anderer ist pure Willkür. Du wirfst David vor, er habe De Vander sein Vertrauen entzogen. Und was tust du? Du wirfst es ihm einfach hinterher, weil es dich nichts kostet, weil deine Familie nicht im Gas krepiert ist. Du bist naiv, Janine. Das heißt, du bist selektiv naiv. Wann immer es dir in den Kram passt. Deine Verachtung für die Öffentlichkeit, die du so schmähst, ist nichts als die Kehrseite der Geheimniskrämerei, die du zu einer stoischen Pose hochstilisierst, wenn es dir nützt.«
    »Immer wieder die gleichen Schlagworte, Matthew.«
    »Nein. Nicht Worte. Es sind die immer gleichen Konflikte, aus denen man sich nicht herausstehlen kann. Manche Menschen tun Dinge, die andere Menschen nicht tun. Die Gründe und Motive dafür kann man endlos ergründen und durchleuchten. Aber irgendwann kommen die Karten auf den Tisch. Wer bist du, Janine? Welche Wahrheit ist für dich absolut und unhinterfragbar? Wann ist der Punkt erreicht, wo du nicht noch die nächste Relativierung vornimmst, sondern wo du sagst: Stopp, ich entscheide mich für eine Position.«
    »Genau da sage ich stopp, Matthew. Wenn mir jemand wie du gegenübertritt und mir so einen Satz vorhält.«
    Das Schweigen, das folgte, fühlte sich an wie eine kleine Ewigkeit. Ich wusste, dass unser Gespräch zu Ende war, für immer. Ich würde aufstehen, dieses Haus verlassen und nach Hillcrest zurückfahren. Und doch würde ich immer hier sitzen bleiben, vor Janine, vor dieser Frage. Eine einzige Bemerkung hatte ich noch auf den Lippen. Ich wollte ihr noch sagen, dass ich diesen Satz über Auschwitz und die Gedichte immer gehasst hatte. Denn bei allem Verständnis für den, der ihn gesagt hatte: War dieser Satz nicht auch ein Gasofen? Für den letzten Funken Hoffnung in die Sprache?
    Aber ich sagte nichts mehr. Ich stand auf und ging.

Kapitel 65
    Das Medieninteresse an Hillcrest ebbte bald wieder ab, und die große De-Vander-Konferenz im Februar ging recht stillschweigend über die Bühne. Nur fünfzig oder sechzig Zuhörer fanden sich im Durchschnitt an jedem der drei Tage ein, um sich die Referate anzuhören. Soweit ich es beurteilen konnte,
    bestand die Tagung hauptsächlich aus mehr oder weniger scharfsinnigen Versuchen, aus De Vanders Artikeln das Gegenteil von dem herauszulesen, was darin stand. Manch einer zog bizarre Querverbindungen zwischen De Vanders Leben und seinem Werk und versuchte, das eine durch das andere zu rehabilitieren. Eine Professorin aus Yale wies darauf hin, dass De Vander seine Mitarbeit am Soir Vole schließlich bald wieder aufgegeben und stattdessen Moby Dick ins Flämische übersetzt hätte. Damit sei sein späteres und neues Leben in den USA sinnbildlich schon vorweggenommen. In De Vander spiegle sich das Schicksal von Ishmael, der den Untergang des fanatischen Ahab (Hitler?) und den Schiffbruch der Pequod (3. Reich?) als Einziger überlebt und auf einem Sarg treibend gerettet wird, um dann seine Geschichte zu erzählen. Dass De Vander, ganz im Gegensatz zu Ishmael, seine Geschichte eben nicht erzählt hatte, sondern eine Literaturtheorie erfand, welche die Unterscheidung von Geschichte und Geschichten zu einem sprachlichen Willkürakt machte, war offenbar kein Widerspruch für sie. De Vander habe, so argumentierte sie weiter, nach einem radikalen Bruch mit einer dunklen Vergangenheit in seinem späteren Werk ein stummes Zeugnis davon abgelegt. Das Verheimlichen seiner Nazipropaganda sei in Wirklichkeit eine heimliche Beichte gewesen. Stumme Eloquenz.
    »Auf stumme Weise«, sagte die Professorin, »ist Geschichte als Holocaust in De Vanders reifen Arbeiten überall präsent. Sein Schweigen war kein Verschweigen oder Entstellen der Vergangenheit, sondern eine laufende, aktive Transformation des Aktes des Bezeugens an sich.«
    Ein Professor aus Paris ging sogar noch weiter. »Ist denn nicht jede Beichte eine Farce?«, fragte er. »Ein selbstironischer Akt, der letzte Zufluchtsort der Illusion des vollen, aufrichtigen Sprechens, dessen strukturelle Unmöglichkeit De Vander doch so eindrücklich bewiesen hat? War es nicht folgerichtig, ja anständiger, dass er geschwiegen hat? Die zu erwartenden Diskussionen über seinen Fall - und das beweist sich ja gerade - hätten ihm nur wertvolle Zeit und Energie für seine eigentliche Arbeit geraubt. Er hat also richtig gehandelt, indem er uns diesen schweren und dunklen Teil des
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