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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Oder er hätte meinetwegen ein für alle Mal geschwiegen. Aber er wäre nicht ausgerechnet Lehrer geworden, Matthew, Literaturwissenschaftler und Philosoph. Wie kann jemand, der moralisch so versagt hat, sich ausgerechnet als Lehrer versuchen?«
    Er unterbrach sich, denn das Lämpchen blinkte schon wieder. Barstow war dieser Tage offenbar ein gefragter Gesprächspartner.
    »Er wollte sich erlösen, Matthew, sonst gar nichts. Wie so viele Intellektuelle seiner Generation, die mit dem totalitären Denken Europas kokettiert haben. Wissen Sie, was Ruth mir gestern gesagt hat?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie hat mir gesagt, sie verstehe jetzt diesen jüdischen Autor, der nach dem Krieg geschrieben hat, die Offiziere solle man einsperren, aber die Intellektuellen müsse man hängen. Gedanken sind nicht einfach nur Gedanken. Es sind Handlungen. Taten. Und ist es nicht eine bittere Ironie der Geschichte, dass De Vanders Artikel ausgerechnet in einer Zeitung mit dem Namen Der gestohlene Abend erschienen sind. Sinnbildlich kann er durchaus für den gestohlenen und verlogenen Lebensabend einer geistigen Elite stehen, die erbärmlich versagt hat, die ihre Komplizenschaft mit den Kräften, die Hitler ermöglicht haben, niemals eingestanden hat. Oder erst dann, wenn kein Preis mehr dafür zu bezahlen war oder die Beweislast zu erdrückend wurde.«
    Es klopfte an der Tür.
    »Ja«, sagte Barstow laut.
    Eine Frau steckte den Kopf zur Tür herein.
    »Der Journalist der L.A. Times wartet auf Sie. Was soll ich ihm sagen?«
    »Ich komme sofort. Zwei Minuten.«
    Ich war bereits aufgestanden. Die Tür schloss sich wieder.
    »Ich will Sie nicht gegen Marian einnehmen, Matthew. Sie ist eine kluge Frau. Ich achte sie. Ich teile ihre Ansichten nicht, ich halte sie sogar für schädlich, aber ich bekämpfe anderer Leute Ideen nicht, indem ich Intrigen schmiede und ihnen den Mund verbiete. Diese Geschichte wird noch sehr viel Staub aufwirbeln, und Marian verdient es gewiss nicht, ihn allein schlucken zu müssen. Soviel ich weiß, wird Hillcrest Marians Berufung nicht infrage stellen. Und Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Wenn jemand Marian verraten hat, dann ist es Jacques De Vander. Ich weiß nicht, ob Sie das tröstet, aber so sehe ich die Sache. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben? Ich würde mich freuen, wenn Sie bei uns bleiben.«
    Er streckte mir die Hand entgegen.

Kapitel 64
    Das Haus in Venice Beach lag einen Block vom Strand entfernt. Drei Wagen standen in der Auffahrt. Der von Janine stand in der Mitte. Am Zaun lehnten zwei Fahrräder. Ich wartete einige Minuten und beobachtete das Haus. Schließlich ging ich zum Eingang und klingelte. Jemand kam geräuschvoll eine Treppe herunter. Dann öffnete sich die Tür. Ein junges Mädchen stand vor mir.
    »Hi.«
    »Ist Janine da?«
    »Ja. Klar. JANINE. FÜR DICH.«
    Sie ließ die Tür offen und verschwand wieder die Treppe hinauf. Einen Moment lang war alles still. Dann öffnete sich irgendwo eine Tür und Schritte näherten sich. Sie verlangsamte ihren Gang, als sie mich erkannte. Bis sie vor mir stand, sagte sie kein Wort und dann auch nur:
    »Hallo.«
    »Hallo.«
    Im ersten Moment dachte ich, sie würde die Tür einfach wieder zumachen. Aber dann trat sie zur Seite und bat mich herein. Ich folgte ihr in einen Raum, der wohl das Wohnzimmer war. Es herrschte ein unübersichtliches Durcheinander von zusammengewürfelten Möbelstücken und Gegenständen. Janine hob einen Wäschekorb von einer grünen Cordsamtcouch und stellte ihn zur Seite. »Setz dich. Magst du was trinken?« »Nein. Danke.«
    Sie nahm am Tisch auf dem einzigen Stuhl Platz, auf dem keine Zeitungen, Socken, Racket-Ball-Schläger oder Strandtücher lagen und verschränkte die Arme.
    »Wie geht's? Was verschlägt dich nach Venice?« »Du.«
    Ein Hauch von einem Lächeln flog über ihr Gesicht. »Woher hast du meine Adresse?« »Von Marian.« »Von ... Marian?«
    »Ja. Sonst haben wir ja keine gemeinsamen Bekannten.« Janine stand auf, verschwand in der Küche und kehrte mit einer Dose Cola Light zurück. »Willst du wirklich nichts?«
    »Nein danke. Ich war gestern bei John Barstow. Danach bin ich zu Marian gegangen. Ich war sozusagen zwischen den Fronten.«
    »Und? Hat sie dich empfangen?«
    »Ich habe ihr gesagt, wenn sie dir damals meine Adresse gegeben hat, dann sei es nur recht und billig, dass sie mir jetzt auch deine gibt.«
    Sie wich meinem Blick aus und trank einen Schluck. »Und? Was
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