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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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das?«
    Er blätterte weiter. »Oder hier: Gesellschaft und Politik sind weder natürlich, noch ethisch noch theologisch, da Sprache nicht als transzendentes Prinzip gedacht werden kann, sondern nur als Möglichkeit zufälliger Irrtümer. Sehen Sie das auch so, Matthew? Das soll Sprache sein? Nur eine Möglichkeit zufälliger Irrtümer?«
    Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte.
    »Oder das hier, nach meiner Zählung übrigens der Spitzenreiter: Es ist immer möglich, sich jeder Erfahrung zu stellen und jede Schuld zu verzeihen, da jede Erfahrung immer sowohl als fiktive Erzählung als auch als empirische Erfahrung existiert, und es ist niemals möglich zu entscheiden, welche der beiden Möglichkeiten die richtige ist. Diese Unbestimmtheit gestattet es, das grässlichste Verbrechen zu entschuldigen, denn als Fiktion untersteht es nicht den Zwängen von Schuld und Unschuld. Könnten Sie mir bitte erklären, wie man so einen Satz widerspruchslos hinnehmen soll?«
    »Ich kenne diesen Satz«, sagte ich kleinlaut. »Er ist mir auch unheimlich.«
    »Er ist entsetzlich. Was ich Marian vorwerfe, ist überhaupt nicht das, was De Vander als junger Student geschrieben hat. Was ich bestreite ist, dass es sich von dem, was später kam, wesentlich unterscheidet. De Vanders Theorie ist totalitär. Das ist mein Problem. Sie haben ein schlechtes Gewissen? Warum? Was haben Sie denn getan? Genau das, was jeder anständige Mensch in so einem Fall tun sollte. David hätte diese Texte sofort herausgeben müssen. Und nach ihm Marian, ohne auch nur einen einzigen Tag zu warten.«
    Er warf einen Blick auf das Telefon, das wieder zu blinken begonnen hatte, ignorierte den Anruf jedoch.
    »Marian, Holcomb und leider auch David verhalten sich nicht wie Wissenschaftler, sondern wie Gralshüter. Für sie ist Sprache keine Erkenntnisinstrument, sondern ein mystisches Faszinosum. Letztlich misstrauen sie ihr. Sie suchen ihr Heil lieber in Aporien, in unauflöslichen, formalistischen Widersprüchen, anstatt in einer Gemeinschaft. Denn was ist denn Sprache, wenn nicht Gemeinschaft? Was kann uns retten, wenn nicht das Gespräch? Die Beichte? Das Geständnis? Keine noch so raffinierte Kasuistik führt aus schuldhaften Verstrickungen heraus. Und verstricken werden wir uns immer wieder. Denn leider besteht das Leben nicht nur aus Lektüre, sondern auch aus unseren Handlungen und Taten. Was soll uns von unseren Taten erlösen, wenn nicht die Beichte, das Erzählen, das Gespräch mit der Gemeinschaft, die uns verzeiht oder auch nicht? Das ist mein Problem mit Marians grenzenlosem Relativismus und allem, wofür sie steht. Denn absoluter Relativismus ist totalitär, Matthew. Und De Vander hat genau das gepredigt: absoluten Relativismus. Und das ist ebenso totalitär wie Fundamentalismus.«
    Auf Barstows Wangen erschienen rote Flecken. Er schien selbst zu bemerken, dass sein Temperament ein wenig mit ihm durchging, und dämpfte seine Stimme.
    »Erinnern Sie sich noch an DeLillo, an die Szene mit der Scheune?«, fragte er.
    »Ja. Sicher.«
    »Dort wird uns das alles hinbringen. Irgendwann stehen wir nur noch knipsend in der Meute vor einer Scheune oder vor sonst einem Haufen Schrott in einem unserer Museen. Kein Autor, was ja nichts anderes heißt als: kein Täter. Keine Geschichte. Keine Biografie. Kein Kontext. Vor allem keine Moral. Keine Werte. Keine Fragen. Kein übergreifender, Gemeinschaft stiftender Sinn. Nur leere Zeichen, denen allein die Spiegelung in vielen gaffenden Augen die Aura einer Sprache verleiht. Die Spiegelung in einer Theorie, die die Kunst ersetzt hat, mit ihr eins geworden ist. Eine ästhetische Theorie eben. Denn wenn alles Kunst ist, dann ist auch alles wahr. Und wenn alles wahr ist, dann gibt es auch keine falsche Interpretation mehr, und alles Sprechen über wahr und falsch ist nur noch Geplapper. Wenn es kein Subjekt mehr gibt, keinen freien Willen, dann gibt es auch keine Schuld mehr, sondern nur noch eine linguistische Nacht der Zeichen, in der alle Katzen grau sind. Und dann ist es auch sinnlos geworden, zu urteilen. Das ist diabolisch. Dem widersetze ich mich, Matthew, vor allem wenn dergleichen von jemandem vorgetragen wird, der guten Grund gehabt hätte, sich mit seiner schäbigen Rolle in einer entsetzlichen Zeit etwas genauer auseinanderzusetzen. De Vander mag von den Leichenbergen, die er mit herbeigeschrieben hat, geschockt gewesen sein. Aber sein Denken hat sich um keinen Deut verändert. Sonst hätte er gebeichtet.
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