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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Vander. Sein Einfluss auf das amerikanische Geistesleben musste enorm sein. Nach seinem Tod vor drei Jahren war er sogar in amerikanischen Tageszeitungen mit Nachrufen gewürdigt worden. Seine wichtigsten Schüler, Jeffrey Holcomb, Marvin Krueger und Marian Candall-Carruthers, schienen regelrechte Stars zu sein.
    Es lag vor allem an ihnen, dass Hillcrest so sehr im Kommen war. Den letzten Bewertungen war zu entnehmen, dass neuerdings die gescheitesten und finanziell bestausgestatteten Literaturstudenten der USA nach Hillcrest wollten. Drei Wochen vor meiner Abreise las ich im Chronide of Higher Education, dass Hillcrest von einer Stiftung in Los Angeles den sagenhaften Betrag von dreißig Millionen Dollar pro Jahr zur Verfügung gestellt bekommen hatte, um allein die Geisteswissenschaften zu fördern. Hillcrest sollte zur ersten Adresse des Landes, ja der Welt ausgebaut werden und in einem eigenen Institut für neue Ästhetische Theorie, dem INAT, die einflussreichsten und bedeutendsten Literaturwissenschaftler versammeln.
    Das Kursverzeichnis war mir bereits zugeschickt worden. Wie verlangt, hatte ich meine Seminarwünsche eingetragen und die Unterlagen pünktlich zurückgeschickt. Zwei Tage vor meiner Abreise traf ein Brief vom Einschreibungsbüro ein mit der erneuten Bitte, meine Seminaranmeldung einzureichen. Ich wunderte mich, bis ich sah, dass auf einem zweiten Blatt meine ursprüngliche Anmeldung zurückgekommen war. Neben allen drei Kursnummern, die ich eingetragen hatte, stand: not eligible. Nicht zulässig? Hatte ich mich verschrieben? Ich überprüfte die Kursnummern, fand aber keinen Fehler. Vielleicht war meine Handschrift unleserlich? Oder konnte der Computer dort die europäischen Zahlen mit dem Querbalken in der Sieben und der nach oben geöffneten Vier nicht lesen? Ich trug die gleichen Kursnummern noch einmal per Schreibmaschine ein und schickte das Ganze per Fax zurück.

Kapitel 3
    Der Campus lag zwei Autostunden südlich von Los Angeles, etwa fünf Meilen von der Küste entfernt. Ich hatte keinen efeuumrankten, neuenglischen Universitätscampus mit Backsteinhäusern und Säulengängen erwartet, aber auch keinen Komplex, der an eine Mondbasis erinnerte. Aus der Ferne sahen die Gebäude wie überdimensionierte und in die Länge gezogene Golfbälle aus. Beim Näherkommen stellte ich fest, dass dieser Eindruck durch wabenförmige Fassadenverkleidungen entstand, von denen die Gebäude wie von einer zweiten Haut umhüllt wurden. Sie dienten wohl als Sonnenschutz, denn sie ließen nur indirektes Tageslicht in die dahinter liegenden Zugangskorridore fallen. Viele Büros und nicht wenige Seminarräume waren sogar fensterlos. Sonnenlicht war hier offenbar das architektonische Hauptproblem.
    Während einer Führung, an der ich am zweiten Tag nach meiner Ankunft teilnahm, erfuhr ich, dass der Campus aus politischen Gründen so gebaut worden war. Ende der Sechzigerjahre war es vor allem darum gegangen, es den Studenten schwerer zu machen, sich spontan zu versammeln, Barrikaden zu errichten oder Gebäude zu besetzen. Es gab nur wenige Wohnheime. Sie standen auch noch separat und waren durch eine stark befahrene, vierspurige Straße vom Campus getrennt. Nur ein sehr kleiner Teil der Studenten wohnte überhaupt auf dem Universitätsgelände. Hillcrest war eine Pendler-Universität auf der grünen Wiese, die jeden Abend schlagartig verödete. Ein Filmstudio aus dem nicht weit entfernten Hollywood hatte einige Jahre zuvor den futuristischen Teil der Eroberung vom Planet der Affen hier gedreht. Das sagte eigentlich alles.
    Ich brachte die zahlreichen Anmeldeformalitäten hinter mich und bezog mein Studio in einem Wohnheim namens Cedar, das man über eine schmale Fußgängerbrücke erreichte. Die anderen Wohnheime hießen ebenfalls wie Bäume: Willow, Pine, Sycamore. Ich besorgte mir einen Führerschein, eröffnete ein Bankkonto und besuchte eine Willkommensveranstaltung für Neulinge. Ein Mr. Fillmore erklärte alle wichtigen organisatorischen Einzelheiten und Regeln. Am Schluss bekam jeder Teilnehmer ein Begrüßungspäckchen, das ein pharmazeutisches Unternehmen gespendet hatte. Neben Vitamintabletten befanden sich fast nur Aufputsch- und Magenmittel darin. Auf dem Kugelschreiber war in roten Buchstaben der Name des Sponsors zu lesen. Darunter stand: You can do it!

Kapitel 4
    »Es tut mir sehr leid, Matthew«, sagte Mr. Billings vom Einschreibungsbüro und putzte seine Brille. »Für die Kurse, die Sie
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