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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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alles eins. De Vanders radikale Leugnung der Möglichkeit moralischer Urteile, seine tiefe Skepsis gegenüber den sogenannten universalen Werten - David sah darin auf einmal nur noch eine diabolische Finte, mit der De Vander sich aus der Verantwortung für seine Vergangenheit herausstehlen wollte.«
    »Du nennst mich naiv, Janine? Du mit deiner völlig willkürlichen Unterscheidung zwischen Schweigen und Lügen. De Vander hat gelogen. Mehrmals. Er wurde in den Fünfzigerjahren denunziert und hat alles abgestritten. Wenn er so ergriffen und geläutert war, wie du sagst, warum hat er dann nicht die Courage besessen, darüber zu sprechen, als die Chance sich bot? Woran soll man die Aufrichtigkeit einer Haltung messen, wenn sie nicht öffentlich vorgetragen wird?«
    »Was hätte er tun sollen? Beichten? Sich seiner Fehler öffentlich bezichtigen, wie all die geläuterten Wendehälse, die ihre alten Uniformen wegwerfen, umso schnell wie möglich in die neuen zu schlüpfen? Und dann stehen sie da, erschauernd bis ins Mark vor Selbstgerechtigkeit, als angebliche Demokraten, Gutmenschen und zivile Bürger. Was kostet es schon, nach Hitler gegen Hitler zu sein? Was aber kostet es, vierzig Jahre lang darüber nachzudenken, wie es kam, dass man für Hitler gewesen ist? Was wiegt mehr? Das obszöne, vor Selbstgefälligkeit und Opportunismus triefende Spektakel öffentlicher Selbstanklage, oder ein Nachdenken im Stillen, eine geistige Andacht auf höchstem Niveau, ehrlich bis an die Grenze des Möglichen? Und diese Grenze hat natürlich einen Namen: Öffentlichkeit! - der korrupte Markt der öffentlichen Meinung, auf dem all diese angeblich Geläuterten ihr angebliches Gewissen prostituieren.«
    Janine stand vom Tisch auf und ging ans Fenster. Es war wie damals im Zug. Sie stand dort, zog aufgebracht an ihrer Zigarette und mied meinen Blick. Zwei Schritte trennten mich von ihr, und ein unsichtbarer Riss, der quer durch dieses Zimmer verlief. Sie drehte sich wieder zu mir um, kam näher und schnippte ihre Asche in den Aschenbecher. Ihre Wangen hatten sich leicht gerötet. Sie war selbst mitgenommen von dem, was sie mir da erzählte. Aber das lag nicht an mir. Sie redete gar nicht mit mir. Sondern mit ihm. Mit David.
    »De Vanders Überlegungen haben eine ganze Generation von Studenten inspiriert. David eingeschlossen. Aber was hat er getan, als es darum ging, seinem Lehrer in einer schwierigen Situation zu vertrauen, seine Gedanken wirklich ernst zu nehmen?«
    Sie fixierte mich, und die Empörung aus unserem letzten Gespräch in Brüssel war wieder da.
    »Er hat wie ein Enthüllungsjournalist seinen tollen Fund ans Licht gezerrt und überlegt, wie er ihn am profitabelsten verkaufen kann. Dass er De Vander sofort verraten hat, war für mich schon fragwürdig genug. Aber Marian? Warum sollte ausgerechnet sie dafür bezahlen? Kannst du mir das erklären? Ich habe ihn beschworen, Marian zu informieren und mit ihr zu besprechen, was zu tun sei. Er wollte nichts davon wissen. Er hat gedroht, die Dokumente sofort der New York Times zu schicken, falls ich ihr gegenüber auch nur eine Andeutung machen würde. Damals begriff ich überhaupt nicht, was er vorhatte. Ich dachte, er wäre sich selbst noch nicht im Klaren, was er tun wollte. Er ist ja immer verschlossener geworden, unzugänglicher. Was wirklich in ihm vorgegangen ist, kam ja erst nach diesem Anschlag heraus. Er hat sich in eine regelrechte Paranoia hineingesteigert. Hillcrest war für ihn nur das Zentrum von De Vanders Kanonisierung. Aber De Vander wird natürlich im ganzen Land studiert und gelesen. David wollte auf einen Schlag so viel Aufmerksamkeit erregen, dass auch noch der letzte verschlafene Campus aufschrecken würde. Es ging ihm gar nicht mehr um Inhalte, Matthew. Über den Inhalt hatte er längst entschieden. Und Marian war ihm scheißegal. Ihm ging es um die Generation, die gegenwärtig landauf, landab zur Berufung ansteht, die Lehrgeneration der nächsten dreißig Jahre. Die hatte er im Visier, De Vanders Schüler, in denen die Irrtümer der Vergangenheit sich verpuppt haben und verborgen schlummern. So sah es in Davids Kopf aus.«
    »Woher weißt du das?«
    »Es gibt Aufzeichnungen, die in seinen Unterlagen gefunden wurden. Entwürfe für Presseerklärungen und dergleichen.«
    »Aufzeichnungen, die für niemanden bestimmt waren und die du oder Marian dennoch gelesen haben.«
    »Was soll der Schwachsinn?«
    »Deine Vergleiche sind schwachsinnig, Janine. Deine
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