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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Erbes hinterlassen hat. Wir verdanken es ihm und wir schulden ihm sogar noch mehr, da seine Hinterlassenschaft für uns ein qualvolles Geschenk ist: Die Aufforderung zur Lesearbeit, zur historischen Interpretation, zu ethisch-politischen Überlegungen, die niemandem schaden werden. Insbesondere nicht denen, die, falls sie anklagen oder Rache üben wollen, De Vander nun endlich werden lesen müssen, von A bis Z. Haben sie es denn getan? Hätten sie es andernfalls überhaupt getan? Jetzt ist es unvermeidlich.«
    De Vander hatte also seine angeblichen Gewissensqualen aus pädagogischen Gründen für sein Publikum ertragen. Er hatte die schreckliche Wahrheit nicht zurück-, sondern ausgehalten, für uns, für seine Leser. Ja, war nicht jeder Täter am Ende immer auch ein Opfer?
    Niemand protestierte.
    Die Zusammensetzung des Publikums war so, dass Tumulte diesmal so gut wie ausgeschlossen waren. John Barstow und Ruth Angerston kehrten nach der Mittagspause am ersten Tag nicht wieder zurück. Am nächsten Morgen waren die Schüler und Anhänger De Vanders weitgehend unter sich. Holcombs Schlusswort am dritten Tag, eine einstündige Abrechnung mit den verantwortungslosen Massenmedien, hörte nur noch knapp die Hälfte der Teilnehmer, von denen viele bereits am Morgen abreisen mussten.
    Am meisten beeindruckte mich der Vortrag eines jungen Belgiers, der am zweiten Tag weitgehend kommentarlos Briefe des Studenten De Vander vorlas, die zwischenzeitlich in Brüssel aufgetaucht waren. Ich suchte den Mann später auf und bat ihn, einige Passagen abschreiben zu dürfen. De Vander war neunzehn Jahre alt, als er diese Briefe verfasst hatte:
    Was ich über Menschen denke, die ernsthaft glauben, dass es gute und schlechte Dinge gibt, die sich eine bestimmte Doktrin gewählt oder gezimmert haben und deren Lebensziel es ist, sie zu verteidigen und durchzusetzen ... Zunächst empfinde ich, rein verstandesmäßig, eine gewisse Feindschaft gegenüber der Starrheit und dem Objektivitätsmangel einer solchen Haltung, die einhergeht mit einer gewissen Naivität, einem Mangel an kritischem Geist und einer Neigung zum Lächerlichen ... Ich weiß sehr gut, dass ich mich, was mich betrifft, in einem dauerhaft instabilen Zustand befinde - sei es im Hinblick auf Ideen, Personen oder auf mich selbst. Ich glaube nicht, dass dies auf einen Mangel an Bildung oder auf meine Jugend zurückzuführen ist, sondern denke vielmehr, dass es durchaus möglich ist, dass man nicht nur als Jugendlicher daran leidet.
    In einem Brief vom 3. Januar 1939 stand zu lesen:
    Eine Sache wird Sie vielleicht stören: die Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen, die mit solch einer Geisteshaltung zwangsläufig einhergeht. Nehmen Sie mehr Anteil an den Menschen!, sagen Sie mir. Ja, was denn, ich interessiere mich doch für sie; sie faszinieren mich - aber nur solange ich selbst distanziert bleibe, ungebunden, neutral. Die moralische Einsamkeit, die Sie so sehr zu fürchten scheinen, ist für meine gegenwärtige Orientierung unumgänglich - und ich weiß, dass ich mich ihr aussetze und sie ertragen werde.
    Janine sah ich nirgends. Auch Marian war der Konferenz ferngeblieben. Ein paar Tage später wurde bekannt, dass sie einen Ruf an eine Universität in Kanada angenommen hatte. Catherine rief mich an und teilte mir mit, meine Hausarbeit sei korrigiert und liege zur Abholung bereit. Marians Kommentare waren sehr knapp ausgefallen: ein interessanter Ansatz, der jedoch nur bedingt entwickelt sei und sich zu sehr auf die Wiedergabe und Beschreibung von Ansichten aus der Sekundärliteratur stütze, ohne eigene Gedanken zu formulieren. Note: B". Genauso sah ich das auch.
    Ich absolvierte mein letztes Trimester und belegte Kurse in Geschichte, die ich nach dem einzigen Kriterium auswählte, dass vornehmlich Primärquellen gelesen und Techniken zu ihrer Erschließung unterrichtet wurden. Das brachte mit sich, dass ich mich fast nur noch im Archivbereich der Bibliothek aufhielt.
    Täglich kam ich an der Tür zum mittlerweile renovierten, aber noch immer geschlossenen De-Vander-Archiv vorbei und verspürte stets den gleichen Wunsch, noch einmal dort hineingehen und mit David sprechen zu können. Manchmal blieb ich ein paar Sekunden auf dem Treppenabsatz davor stehen und lauschte auf Geräusche. Einmal, als ich schon auf dem Weg in den nächsten Stock war, sah ich Holcomb dort herauskommen und hörte das Geräusch einer Fotokopiermaschine, bevor die Tür sich wieder schloss.
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