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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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schwarzen Locken aufgefallen. Ich versuchte, nicht dauernd zu ihr hinzuschauen, was mir schwer fiel, denn sie saß in gerader Linie zwischen mir und dem Pult, an dem sich soeben die Professorin niedergelassen hatte. Es wurde still, und Miss Goldenson begann, in einem stark österreichisch gefärbten Englisch den Inhalt ihrer Lehrveranstaltung zu erklären.
    Das ganze dauerte nur eine knappe Viertelstunde. Fotokopien mit Literaturangaben und einer Liste der anzuschauenden Filme gingen herum. Der Raum wurde abgedunkelt. Ein letztes Mal huschte mein Blick über das Profil der Studentin drei Reihen vor mir. Dann begann der Film: Ingmar Bergmanns Das siebente Siegel. Die Grundidee gefiel mir: Ein von den Kreuzzügen zurückkehrender Ritter strandet mit seinen verbliebenen Gefährten an der heimatlichen schwedischen Küste und wird dort vom Tod erwartet. Doch der Ritter will noch nicht sterben. Er fordert den Tod zu einer Partie Schach heraus, was der Tod, der anscheinend exzellent Schach spielt, nicht ablehnen kann. Der Ritter ist sich von Anfang an darüber im Klaren, dass er die Partie verlieren wird, aber immerhin gewinnt er etwas Zeit, die Zeit des Filmes, die eine Irrfahrt durch ein von religiösem Wahn verwüstetes Land zeigt. Der Ritter streift darin umher wie ein verlorener Gottsucher. Zug um Zug verliert er das Spiel gegen den Tod - und wie es scheint auch den Glauben. Am Ende retten sich nur ein paar Spielleute, die den Tod offenbar gar nicht sehen können. Sie laufen ihm einfach davon, während der Ritter und seine Schar dem Sensemann ins Jenseits folgen müssen.
    Als das Licht wieder anging, bat uns Miss Goldenson, bis zur nächsten Sitzung am Mittwoch eine kurze Inhaltsangabe des Filmes zu schreiben und zu erörtern, warum der Ritter sterben muss und die Spielleute entkommen. Beim Hinausgehen gab es ein wenig Gedrängel an der Tür und ich fand mich einige Sekunden lang neben der hübschen Studentin mit den schwarzen Locken wieder. Sie schaute mich kurz an und lächelte. Ich lächelte zurück.
    »Hi.« »Hi.«
    Das war alles. Aber immerhin. Der Kurs begann mich zu interessieren.

Kapitel 7
    John Barstows Seminareinführung war ungleich origineller als die von Miss Goldenson. Der bullige, schwergewichtige Mann betrat am Montagnachmittag den Raum, schrieb ein Gedicht an die Tafel und befahl kurz angebunden fünf Minuten Ruhe. Wir sollten das Gedicht auf uns wirken lassen.
    Ein merkwürdiger Auftakt, dachte ich. Englisch 103 war laut Kurskatalog eine Einführung in den Roman des amerikanischen Naturalismus und kein Lyrikkurs. Nicht weniger eigenartig war das Gedicht.
    thirteen year-old
    killed
    last night
    while
    crossing
    rail tracks
    at dumbarton Station
    Ich schielte zu den anderen. Ich war sichtlich nicht der Einzige, der nicht viel mit dem Gedicht anfangen konnte. Seminare über moderne Lyrik hatte ich schon in Berlin gemieden, was nicht nur mit der Erinnerung an quälende Deutschstunden in der Schule zusammenhing. Was sollte man zu dieser Art Prosadichtung schon sagen? Ging es darum, die Banalität des Sterbens auszudrücken? Durch Zeitungssprache? Der Satz war völlig unpoetisch. Jedenfalls konnte ich keinerlei poetische Stilmittel darin erkennen. Im Gegenteil. Jegliche nicht alltägliche Formulierung war bewusst vermieden worden. Allein der Sprachrhythmus hatte etwas Rhapsodisches, eine angenehme Folge von Hebungen und Senkungen. Vielleicht lag die Besonderheit im Schriftbild, mutmaßte ich dann. So weit war ich etwa mit meinen Überlegungen gekommen, als Barstow mich namentlich aufrief.
    »Matthew Theiss?«, sagte er plötzlich und schaute sich suchend im Raum um. Ich wurde ein wenig rot, hob aber leicht den Arm, damit er sehen konnte, wer zu dem Namen gehörte.
    »Fangen wir mit Ihnen an. Was fällt Ihnen auf?«
    »The text looks like an hour-glass«, sagte ich schnell, mehr als froh, dass mir das Wort für Sanduhr gerade noch eingefallen war. Ich blickte unsicher um mich, aber die anderen Studenten waren bemüht, Barstows Blick auszuweichen und schauten vor sich auf ihre Tische.
    »Gut«, sagte Barstow. »Die Sanduhr als Vergänglichkeitssymbol. Ein lyrisches Piktogramm über das Sterben. Frederic Miller, was meinen Sie?«
    Miller saß in der ersten Reihe. Aber er meinte überhaupt nichts. Er zuckte mit den Schultern. Barstow hielt sich nicht lange mit ihm auf, sondern gab den Ball weiter an eine asiatisch aussehende Studentin, die das Gedicht noch immer anstarrte, als werde es sein Geheimnis schon
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