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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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humorvoll gewesen. Vielleicht lag es daran, dass ich sie mir als recht jung vorgestellt hatte. Zu meiner Überraschung empfing mich eine ältere, grauhaarige Dame, die mich freundlich begrüßte und sogleich in ihr Büro bat.
    Ich war von Beginn an verunsichert. Immer wieder wanderte mein Blick zu ihrem Unterarm. Es war ziemlich warm in ihrem Büro. Falls es eine Klimaanlage gab, so hatte sie sie nicht eingeschaltet. Beide Fenster - ja, ihr Büro verfügte tatsächlich über Fenster - standen offen und ließen die warme, südkalifornische Luft mit dem hier typischen Eukalyptusduft ins Zimmer herein. Sie trug eine blaue Bluse mit weiten Ärmeln, die sie ein wenig hochgekrempelt hatte, wodurch die bläuliche Nummer auf ihrem Unterarm gut sichtbar war. Die Tätowierung traf mich völlig unvorbereitet. Ich hatte noch nie einem Menschen mit einer KZ-Häftlingsnummer gegenübergesessen.
    Ruth Angerston ließ sich meine Verunsicherung, die sie bestimmt spürte, in keiner Weise anmerken. Während ich ihr meine Situation erklärte, hörte sie ruhig zu, stellte ein paar Fragen nach meinem bisherigen Studiengang und erkundigte sich nach dem einen oder anderen Kollegen in Berlin.
    Ich sollte sie sofort nach dieser Tätowierung fragen, sagte die ganze Zeit eine Stimme in meinem Kopf. Es war merkwürdig, einfach so zu tun, als hätte ich sie nicht gesehen. Andererseits konnte ich das Thema unmöglich ansprechen. Wie denn auch? Hätte ich sie nach ihrem Schicksal fragen sollen, nach ihrem Leidensweg aus einem deutschen KZ in die deutsche Abteilung einer amerikanischen Universität? Nach dem Humor in ihren Artikeln?
    »Zu Marian wollen Sie also«, sagte sie, nachdem wir zu diesem Thema vorgedrungen waren. »Darf ich fragen, warum?«
    »Ich bin neugierig. Ich habe einiges über das INAT und die neue Theorie gelesen und würde gerne herausfinden, was es damit auf sich hat.«
    »Da sind Sie nicht der Einzige. Das wird so einfach nicht gehen. Marians Kurse sind ziemlich begehrt.«
    »Ja, das hat Mr. Billings auch gesagt. Dann ist da wohl nichts zu machen.«
    »Wollen Sie denn auch bei uns Kurse belegen?«, fragte sie dann. »Wir sind nicht ganz so sexy wie Marians Gruppe, aber bei uns wären Sie immerhin willkommen. Worüber haben Sie bisher gearbeitet?«
    Sexy? Das Wort passte überhaupt nicht zu ihr. Es klang fast so, als benutzte sie es als Maß der Distanz, die sie zwischen sich und Marian legen wollte.
    »Haben Sie Ihre Unterlagen dabei? Darf ich sie mal sehen?«
    Ich gab ihr mein Studienbuch, und sie verbrachte einige Minuten damit, es durchzusehen. Als sie fertig war, gab sie es mir zurück und sagte nur:
    »Ich gebe am Montagabend einen kleinen Empfang bei mir zu Hause. Die meisten Leute des Germanistischen Instituts werden da sein. Kommen Sie doch vorbei. Ich würde mich freuen.«
    Ich nickte und verbiss mir jede weitere Nachfrage. Sie reichte mir einen Zettel mit ihrer Adresse und wünschte mir einen guten Start. Dann ging ich.
    Draußen war es mittlerweile recht heiß geworden. Der Campus war menschenleer. Nur zwei Wagen standen auf dem großen Parkplatz neben dem Eingang zum Germanistischen Institut: ein Pontiac und ein silberner Datsun. Ich betrachtete einige Sekunden lang irritiert das Nummernschild des Datsun. Es stand keine Autonummer darauf. Nur ein Wort: Goethe I.

Kapitel 6
    Da ich niemanden kannte, verbrachte ich ein einsames Wochenende. Ich lieh mir ein Fahrrad, fuhr die fünf Meilen zum Strand, lag den ganzen Nachmittag in der Sonne und schrieb Briefe nach Hause. Ich schwamm im Pazifik, spazierte am Strand entlang und fand mich allmählich damit ab, während des ersten Trimesters Anfängerkurse zu besuchen. Vielleicht war Hillcrest ja tatsächlich so anspruchsvoll, dass ich gut daran tat, auf Anfängerniveau zu beginnen?
    Am Montagmorgen saß ich um zehn Uhr in European Film 101. Ich begriff, was Billings gemeint hatte, als er von meinem europäischen Hintergrund sprach, der den Kurs vielleicht bereichern könnte. Die Mehrzahl der Studentinnen und Studenten waren asiatischer Herkunft. Zwei sahen lateinamerikanisch aus. Kaukasier, wie ich mich auf jedem Anmeldebogen zu bezeichnen hatte, gab es außer mir nur wenige. Zwei blonde junge Männer vor mir unterhielten sich leise, und was ich unfreiwillig mithörte, bestätigte meinen ersten Eindruck, dass sie diesen Kurs nur absaßen, um eine Vorschrift auf dem Weg zum späteren BWL- oder Jurastudium zu erfüllen. Etwas weiter vorn war mir dann eine junge Studentin mit
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