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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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bemerkt?«
    Er ließ das Buch geräuschvoll wieder vor Brenda auf den Tisch fallen und begab sich zur Tafel.
    »Also, kommen wir zum heutigen Thema. Wir hatten Sister Carrie aus marxistischer und soziologischer Sicht. Jetzt erfahren wir, was die feministische Literaturkritik dazu zu sagen hat.«
    Nach der Sitzung bat mich Barstow, noch kurz zu warten. Als die anderen draußen waren, schloss er die Tür und stellte mir ein paar Fragen zu meinem Studienplan.
    »Und wer ist Ihr Counselor?«, wollte er dann wissen.
    »Ich habe keinen«, gestand ich. »Mr. Billings vom Einschreibungsbüro regelt das für mich.«
    »Regelt das für Sie? Was heißt das?«
    »Nun ja, er sagt mir, was ich studieren darf und was nicht.«
    Seine Augenbrauen zuckten kurz.
    »Wie soll ich denn das verstehen?«
    Ich erklärte ihm die Situation, so wie Billings sie mir erklärt hatte. Als der Name Marian Candall-Carruthers fiel, verdunkelte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig, aber er ging nicht weiter darauf ein.
    »Formal hat Billings recht. Aber wenn Sie schon Narrenfreiheit haben, warum sollten Sie dann nicht davon Gebrauch machen. Sie werden bei mir sicher auch etwas lernen, aber ich kann mir vorstellen, dass Sie sich etwas unterfordert fühlen, kann das sein?«
    Ich wusste nicht so recht, was ich dazu sagen sollte. »Ich arbeite für keinen Kurs so viel wie für diesen«, sagte ich ehrlich.
    »Ja, sicher, das Lesepensum. Aber ich meine die ganze Theorie. Das kennen Sie doch zum größten Teil, oder? Vielleicht fällt es Ihnen nicht gleich wieder ein, wie heute Benjamin. Aber vergleichen Sie sich doch bitte mit den anderen Studenten hier. Wenn die einen Begriff wie Aura hören, dann denken die, das sei ein neuer japanischer Kleinwagen. Sie haben sicher Lücken, aber in looer-Kursen haben Sie nichts verloren. Jetzt ist es zu spät, um zu wechseln. Aber in der letzten Trimesterwoche kommen Sie zu mir, und dann besprechen wir Ihren Studienplan. Einverstanden? Und um Billings kümmere ich mich schon. OK?«
    Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Barstows nächster Satz hingegen dämpfte meine Glücksstimmung sogleich wieder. »Was Marian und das INAT betrifft, so müssen Sie selbst wissen, ob Sie sich auf so etwas einlassen wollen. Narrenfreiheit muss ja nicht so weit gehen, dass man ... na ja, lassen wir das. Vermutlich müssen Sie diese Erfahrung selbst machen.«
    Es folgte eine lateinische Sentenz, die ich weder kannte noch übersetzen konnte. Barstow lächelte und sah wohl, dass ich nichts verstanden hatte. »Sinngemäß: Der Jugend einen Rat geben zu wollen, kommt dem Versuch gleich, das Meer auszutrinken. Seneca. Oder war es Horaz? Egal. Gute Sprüche sind Allgemeingut, finden Sie nicht auch? Guten Tag, Matthew.«

Kapitel 11
    Am Abend stand Frederic Miller vor meiner Tür.
    »Hey, Sanduhrmann, wie geht's?«, fragte er und kam einfach herein. Mein Studio war nicht besonders groß, ein Einzelzimmer mit einer Couch, die auch als Bett fungierte, einem herunterklappbaren Brett als Schreibunterlage, einem kleinen, viereckigen Tisch neben der Balkontür und zwei wirklich nur als Zellen zu bezeichnenden Ausbuchtungen, von denen die eine Dusche und WC, die andere eine Miniküche enthielt. Für eine einzelne Person war der Platz durchaus ausreichend, aber schon zu zweit stand man sich im Weg herum. Da Frederic auf dem Schlafsofa saß, ließ ich mich auf dem Stuhl neben der Balkontür nieder. Sie stand offen. Von draußen wehte warme Abendluft herein, durchsetzt vom allgegenwärtigen Eukalyptusduft.
    »Da hast du's uns ja mal wieder gezeigt. Mann. Woher weißt du das nur alles mit diesem Agra und so.«
    »Aura«, sagte ich. »Ich wusste es eben. Zufall.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ne, Mann, du hast's eben echt drauf mit dem Literaturkram. Aura. Echt abgefahren. Mann, ich höre immer nur oral, wenn ich mir das vorsage. Ich meine, woran denkt man denn auch sonst, wenn man Brenda Glenn anschaut, oder?«
    »Warum belegst du den Kurs eigentlich?«, fragte ich.
    »Vorschrift«, sagte er. »Irgendwas in Englisch 100 muss ich machen.«
    »Barstow gilt als ziemlich anspruchsvoll. Wenn du den nur als Pflichtübung belegst, dann könntest du es dir einfacher machen.«
    »Klar«, erwiderte er. »Aber mein Counselor hat mir gesagt, wenn ich auf die Produzentenschule will, dann reicht es nicht, nur irgendwas belegt zu haben. Die Leute schauen sich das ziemlich genau an, und wenn du nur Bullshitkurse gemacht hast, dann kannst du's gleich vergessen.«
    »Du willst
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