Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn
Autoren: Birgit Fiolka
Vom Netzwerk:
– du hast es geschworen , mahnte Neairas Verstand. Ihr Magen zog sich zusammen.
    „Bist du meine Mutter?“, bohrte sich Phanos Stimme erneut durch ihre Knochen und Eingeweide. Sie hatte es ausgesprochen! Sie hatte die Frage ausgesprochen, die niemals ausgesprochen hatte werden sollen. So grausam, so hart und so vernichtend! Neaira sah Phano in die Augen.
    Ihr gesamtes Leben zog in diesem Augenblick an ihr vorbei - sie erinnerte sich an den Tag, an dem ihre eigene Mutter sie durch die Straßen Korinths gezogen hatte und dann fortgegangen war, ohne ihr die Wahrheit zu sagen, ebenso wie an den Tag, an dem sich ihr das Geheimnis der Muster offenbarte, welche die Sandalen ihrer Mutter in den Sand gezeichnet hatten. Auch hierüber hatte sich ihre Mutter ausgeschwiegen. Ich bin ein Vogel ... ich bin frei , begehrte ihr Herz auf, während sie in Phanos fordernde Augen blickte.
    Freiheit! , forderte ihr in die Enge getriebenes Herz. Neaira straffte die Schultern. „Nein, Phano! Mögen die Athener dich für die Tochter einer Hure halten, doch ich weiß es besser. Deine Mutter war eine ehrbare Bürgerin Athens.“
    Etwas in Phanos Augen schien zu flackern, um kurz darauf zu erlöschen. Dann nickte sie und wies Neaira die Tür. „Das wusste ich! Niemals habe ich geglaubt, dass meine Mutter eine Hure gewesen sei!“
    Neaira verbarg ihre Gefühle und lächelte. Dann wandte sie sich ab. Ich bin ein Vogel, ich bin frei! Neairas Tränen konnte Phano nicht sehen.
    ... Die Sonne sandte ihre roten Strahlen durch die Fensteröffnungen, als die Herrin sich schwer atmend ihren Sklavinnen zuwandte. „Das war der letzte Tag, an dem ich Phano sah. Keine zwei Jahresumläufe später starb sie – trank sich zu Tode. Ich habe mich immer damit entschuldigt, dass ich Phano jene letzte Demütigung ersparen wollte zu wissen, dass sie tatsächlich die Tochter einer Hure war.“ Ihre dünne Hand umklammerte das Laken, mit dem ihre Sklavinnen sie zugedeckt hatten, und ihre Stimme bekam einen eigentümlich abfälligen Klang.
    „Aber das war eine Lüge! Die Wahrheit ist, dass ich mich nicht ihren Fragen und Vorwürfen aussetzen wollte, dass ich keine Kraft hatte, sie zu lieben, wie eine Mutter ihre Kinder lieben sollte. Ich habe nicht gelernt zu lieben ... nur zu überleben. Ich habe auch nicht gelernt, meine Gefühle zu offenbaren. Dagegen konnte ich sie stets gut verbergen.
    Sogar vor mir selbst! Ich ging nie wieder in Phanos Gemächer, ebenso wenig wie Stephanos, für den sie zu einer Schande geworden war, die er zu vergessen suchte.
    Für uns war sie ein Schatten des Hades, und wir fanden Entschuldigungen für unser Verhalten, immer wieder.
    Doch im Grunde wollten wir nicht sie schützen, sondern uns. Ich wollte sie vergessen, verbergen – so wie ich meine gesamte Vergangenheit verborgen halten wollte ... ich wollte frei von dieser Tochter sein, die mir wie eine Mahnung war – frei wie ein Vogel.“ Die letzten Worte gingen in einem Hustenanfall unter, der ihren mageren Körper schüttelte. Ausgedörrt wie ein toter Baum lag sie danach unter ihrem Laken und rang nach Kraft, um weiterzusprechen. Kokkaline nahm erneut die Wasserschale und hielt sie der Herrin an die Lippen.
    „Herrin, du musst jetzt schlafen. Der Tag und die Erinnerungen haben dich zu sehr angestrengt.“
    Die alte Frau winkte jedoch ab. „Keine Zeit zum Schlafen, Kokkaline. Morgen werde ich diese Welt verlassen haben.“ Gefestigt tat sie einen rasselnden Atemzug und fuhr dann fort: „Ich habe mich immer gefragt ob Phano das alles nur tat, um mich dazu zu bewegen ihr die Wahrheit zu sagen. Das kurze Aufflackern in ihren Augen, als sie mich fragte, ob ich ihre Mutter sei, lässt es mich vermuten. Kann es sein, dass sie auf diese Art um meine Liebe gefleht hat? Ich darf es mir nicht vorstellen, denn es ist zu ungeheuerlich. Es macht mich zur Mörderin meiner eigenen Tochter!“
    „Du hast Phano nicht ermordet, Herrin – sie starb an ihrer Trunksucht“, versuchte Kokkaline sie zu trösten.
    Doch wieder bedeutete sie ihren Sklavinnen zuzuhören.
    Ihre Augen suchten den Stuhl, auf den die Sonnenstrahlen noch immer ihre Muster zeichneten. „Den Rest kennt ihr.
    Stephanos starb nicht lange nach Phano; eines Morgens wachte er einfach nicht mehr auf. Die Ärzte sagten sein Herz wäre alt gewesen. Doch was wissen sie schon! Sein Herz war gebrochen, und daran starb mein Stephanos, mein zahnloser aber treuer Hund, den ich trotz allem liebte.
    Es dauerte keinen Tag, bis Proxenos
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher