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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn
Autoren: Birgit Fiolka
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begann Thratta zu schluchzen. Sie drückte die Hand der Herrin an ihre Wange und vermochte sie nicht mehr loszulassen. Kokkaline war es schließlich, die Thrattas Hand aus jener der Herrin löste und ihr zuflüsterte, sie solle ein weiteres Laken für die Herrin holen, da die Nacht kühl zu werden schien. Thratta gehorchte, und sie breiteten sorgsam das Laken über den eingefallenen Körper der Sterbenden. Dann ließen sie sich neben der Kline nieder und hielten Nachtwache, während die erschöpfte Frau auf dem Lager in einen unruhigen Schlaf fiel. Schließlich, als Thratta kaum noch die Augen offenhalten konnte, bot ihr Kokkaline an allein Wache zu halten. Die Sklavin lehnte ab.
    „Ich will bis zuletzt bei ihr sein.“
    Trotzdem konnte Thratta es nicht verhindern, dass sie einschlief, zusammengerollt neben dem Lager. Spät in der Nacht, als Thrattas ruhige Atemzüge neben dem Lager zu hören waren, erwachte die Herrin noch einmal und flüsterte Kokkalines Namen. Die Sklavin, die mit geradem Rücken neben der Kline gesessen hatte, beugte sich zu ihr, da die Stimme der Herrin bereits schwach war.
    „Kokkaline“, raunte die Herrin. „Ich habe dich niemals ganz verstanden. Ich weiß, warum du mir aus Megara gefolgt bist und auch weshalb du in Athen bei mir geblieben bist ... und dann ein ganzes Leben lang. Aber eines weiß ich nicht, und es ist mir bis heute unbegreiflich.
    Warum wolltest du damals mit mir kommen als Phrynion mich aus Timanoridas Haus befreite?“
    Kokkaline antwortete, ohne überlegen zu müssen.
    „Weil du ein gutes und aufrichtiges Herz hast, Herrin.“
    Die braunen Augen schienen zu blinzeln, vielleicht zu weinen, doch bevor Kokkaline es erkennen konnte, fielen die Lider zu und öffneten sich nicht mehr. Kokkaline allein sah den letzten Atemzug ihrer Herrin. Um die frühe Morgenstunde, noch bevor die Sonne aufging, hob der eingefallene Brustkorb sich noch einmal mit einer Gewalt als wolle er sich ans Leben klammern. Dann senkte er sich langsam hinab, entspannte sich und lag still, wobei den Lippen der Sterbenden ein Seufzen unendlicher Erleichterung entfuhr.

„ .. Eine solche Person nun, von der es allbekannt ist, dass sie wegen ihres Gewerbes den ganzen Erdkreis durchzogen hat und ihren Lebensunterhalt mit allen drei Löchern verdiente, wollt ihr nun durch eure Stimmen für eine Athenerin erklären?“
    Apollodoros in der Anklagerede gegen Neaira (Pseudo-Demosthenes 59, § 108)
Neaira – ein Frauenschicksal im antiken Griechenland  
    Als ich zufällig über die detailreich überlieferte Anklageschrift jenes Apollodoros stolperte, in welcher er eine zu seiner Zeit bekannte Hetäre namens Neaira beschuldigte für ihre Kinder Bürgerrechte erschlichen zu haben und in widerrechtlicher Ehe mit dem Athener Stephanos zu leben, ging mir das Schicksal dieser Frau sofort nah, da Apollodoros kein schlüpfriges Detail über das Leben der Neaira ausließ. Apollodoros zog alle Register, um sie so schlecht darzustellen, wie es nur ging.
    Leider ist uns die Verteidigungsrede ihres Geliebten Stephanos nicht überliefert. So bleibt die Anklagerede des Apollodoros das zeitgeschichtliche Dokument einer Schlammschlacht, welche er sich mit seinem Erzfeind Stephanos lieferte. Sofort am Anfang der Rede stellt Apollodoros klar, diese Klage gegen Neaira aus Rache zu führen, da Stephanos ihm oft geschadet hätte. Dies war ein durchaus respektabler Grund für die antike Athener Gesellschaft eine Klage zu führen. Man deutete damit an, den Anderen nicht aus Bereicherungsgründen oder Raffgier zu verklagen, sondern aus verletzter Ehre. Auch dürfen wir bei antiken griechischen Moralvorstellungen nicht von unseren modernen christlich geprägten Vorstellungen ausgehen. Das zeigt schon die Anklage Apollodoros, der von Stephanos eines Mordes an einer Sklavin beschuldigt wird. Hier ging es vielmehr um mutwillige „Sachbeschädigung“ bzw. „Totalschaden“ am Besitz eines Herrn als um einen Mordfall. Neaira besaß zweierlei Einschränkungen in ihrem Leben: Sie war eine Sklavin und eine Frau, dazu mit zweifelhafter Vergangenheit. Eine Rückkehr in die Ehrbarkeit war für sie nahezu unmöglich im antiken Griechenland. Ihre einzige Chance auf ein abgesichertes Leben bestand darin einen Mann zu finden, der sie gut behandelte.
    All das erscheint uns heute unvorstellbar, doch tatsächlich wurde Neaira in ihren späteren Jahren zu einer Spielfigur zweier sich streitender Männer. Das Fazit, welches sich nach Apollodoros
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