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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori
Autoren: Emma Temple
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Vormittag im Wohnzimmer auf seinem gewohnten Platz wiederfand. Mit gerunzelter
Stirn sah er es von allen Seiten an, bis er es wieder auf seine Halterung
zurückstellte und den beiden Jungen zunickte. »Keine schlechte Arbeit.« Fiona
stand hinter ihm und zwinkerte Ewan und John zu. Nur sie wusste, dass am Ende
John und Ewan auf dem Fußboden eingeschlafen waren, während Fiona die letzten
Kratzer am Bug ausgebessert hatte.
    In den nächsten Tagen schrieb John auf einem Zettel genau auf, was
George Cavanagh in seinem Zorn über Johns Mutter verraten hatte. Die Liste war
ernüchternd kurz:
    Â 
    Deutsche (Hamburg?).
    Ava (Denson? Erhardt?).
    In Neuseeland mit einem Minenbesitzer (Denson) verheiratet, der
gestorben ist. Wahrscheinlich im Zusammenhang mit einem Unglück, bei dem George
Cavanagh irgendwie die Finger im Spiel gehabt hatte. Der musste damals also
auch an der Westküste gewesen sein.
    Rückkehr nach Deutschland: Mitte der Dreißigerjahre.
    Â 
    Diesen Zettel versteckte
John in seinem Nachttisch. Neun lange Jahre holte er ihn immer wieder hervor
und schwor sich, dass er sie finden würde. Egal, wie wenig Informationen er
hatte. Er wollte die ganze Geschichte hören, wollte wissen, wie George Cavanagh
sie dazu hatte bringen können, ihren Sohn zurückzulassen. Und dann würden sie
gemeinsam ihre Rache planen, nach Neuseeland zurückkehren und Cavanagh zur Rede
stellen. Immer wieder, wenn er nachts nicht schlafen konnte, malte John sich
dieses Treffen mit seiner Mutter aus.
    Â»Hallo, du kennst mich nicht, aber
ich bin dein Sohn.« Würde er das wirklich sagen? Oder würde sie ihn einfach
erkennen und ihn wortlos in die Arme schließen? Ob sie ihm wohl ähnlich sah?
Was sie wohl heute machte? In seinen kindlichen Vorstellungen war sie eine
wunderschöne Prinzessin, saß am Hamburger Hafen und wartete auf ihn. Als er
älter wurde, wusste er, dass das nicht stimmen konnte. Sie musste sicher
arbeiten, und sie musste inzwischen über vierzig sein. Aber trotzdem: Sie
wartete auf ihn, ganz bestimmt.
    Einen Tag nachdem er seine Ausbildung in der Reederei, die er direkt
nach dem Schulabschluss absolvierte, abgeschlossen hatte, ging er in den Hafen
und fragte nach dem nächsten Schiff mit Hamburg als Ziel. Ein alter Matrose,
der auf einem Stapel Taue saß, deutete auf ein Schiff am Ende des Piers. »Das
ist die Pacific Maiden, die sticht morgen in See. Ist aber sicher nicht der
schönste Pott, auf dem du unterwegs sein kannst. Gehört dem alten Cavanagh, bei
dem bekommt die Mannschaft nichts geschenkt. Würde ich mir überlegen, ob ich es
wirklich so eilig hab.« Der Alte hatte ihn noch einmal genauer angesehen. »Oder
hast du etwas ausgefressen? Dann bist du an Bord der Maiden in guter
Gesellschaft …« Dazu ein schiefes Grinsen, das mehr als einen fehlenden Zahn
zeigte.
    John hatte mit den Schultern gezuckt. War es nicht völlig egal, auf
welchem Schiff man zwölf Stunden am Tag Kohle in einen großen Ofen schaufelte?
Also fragte er völlig unbefangen bei einem der Offiziere nach einer Arbeit –
und hatte Glück: Einer der Arbeiter war erst am Vortag abgesprungen. Zumindest
hielt er das in diesem Augenblick für Glück …
    Am nächsten Tag ging er mit seinem Seesack an Bord. Nur weg von
seinem Ziehvater, weg von der verlogenen Welt, die er da aufgebaut hatte. Nur
die Angst um seinen kleinen Bruder konnte John nicht abschütteln. Bis jetzt
hatte sich Ewan stets hinter seinem Rücken verstecken können. Ab sofort musste
der Siebzehnjährige alleine zurechtkommen.

MÜNCHEN, 1998

    2.
    Entnervt pfefferte
Katharina ihre Tasche unter den Schreibtisch und warf sich auf ihren Stuhl. Sie
schob sich die dunkle Sonnenbrille ins Haar und griff zum Telefon. Sie musste
unbedingt jemandem erzählen, wie sie sich letzte Nacht mit Tom gestritten hatte.
Der Idiot, der ihr immer wieder vorgeworfen hatte, dass ihr die Arbeit
wichtiger als die Beziehung sei. So ein Blödsinn. Er ahnte einfach nicht, wie
hart sie um diesen Job bei einem großen Münchner Nachrichtenmagazin gekämpft
hatte. Noch dazu in dem Ressort ihrer Träume: beim »Modernen Leben«, was
bedeutete, dass sie sich um neue Musik, Kinofilme, Sänger und Schauspieler
kümmern musste. Seit einem halben Jahr galt es als Arbeit, wenn sie abends in
ein Konzert von irgendeinem angesagten neuen Sänger gehen musste – oder
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