Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori
Autoren: Emma Temple
Vom Netzwerk:
kurze Moment hatte John gereicht, um den ersten Maat zu
erkennen. Der direkte Vorgesetzte all der Matrosen, die für einfache Tätigkeiten
wie Kohleschaufeln oder Kartoffelschälen an Bord waren. Leise seufzte John. Er
hatte auf einen Moment Einsamkeit hier oben an Deck gehofft. Der war ihm wohl
nicht vergönnt.
    Der Maat stellte sich neben John, zog noch einmal an seiner
Zigarette und schnippte die Asche in das Meer. Er sah ihr nachdenklich
hinterher und meinte dann in beiläufigem Ton: »Kann es sein, dass ich dich
schon einmal gesehen habe?«
    John zuckte mit den Achseln. »Wenn du auch aus Christchurch bist,
kann das schon sein … so groß ist das ja nicht«, sagte er möglichst ruhig. Er
konnte nur darauf hoffen, dass er nicht erkannt wurde.
    Kopfschüttelnd erklärte der Maat: »Nein, das muss irgendwo an Bord
gewesen sein, ich komme nur nicht mehr drauf. Du bist dir sicher, dass du noch
nie irgendwo angeheuert hast?«
    John lachte auf. »Ganz sicher. Ich will nur nach Hamburg, und das
hier erschien mir eine gute Möglichkeit. Ich bin jung, ich bin stark – da
sollte ich mir so eine Überfahrt wohl verdienen können.«
    Wieder schnippte der Maat ein wenig Asche ins Meer. Für einen Moment
herrschte Schweigen, und John nahm schon fast an, dass dieses Gespräch damit
wohl beendet war. Dann fuhr der Maat plötzlich herum und hielt das brennende
Feuerzeug direkt neben Johns Gesicht.
    Â»Jetzt fällt es mir wieder ein. Das war mit Cavanagh, unserem feinen
Herrn Reeder. Du bist hinter ihm hergeschlichen und hast zu allem immer nur
genickt. Du bist sein Sohn!«
    Abwehrend schüttelte John den Kopf. »Wo denkst du hin? Wäre ich der
Sohn des Reeders, würde ich jetzt in der Offiziersmesse ein Glas kalten Wein
trinken und danach in meine wunderbare Kajüte auf dem Oberdeck gehen. Ich würde
ganz sicher nicht an den Maschinen stehen und Kohle schaufeln! Oder meine
Pritsche mit einem stinkenden Kameraden teilen.«
    Der Maat sah ihn mit zurückgelegtem Kopf an. »Es sei denn, du willst
nicht, dass dein alter Herr dich findet. Wenn du heimlich nach Europa durchbrennst,
dann kann es durchaus sein, dass du dafür ein paar Wochen Kohleschippen in Kauf
nimmst, oder etwa nicht?«
    Â»Und warum sollte ich abhauen?«, gab John zurück. »Als Erbe der
Pacific Shipping Company hätte ich wohl kaum Grund zur Flucht, oder? Wenn du
recht hast, dann muss ich es mir ja nur gut gehen lassen, bis der alte Cavanagh
abkratzt.« Er schickte dem Satz ein verächtliches Schnauben hinterher, um
deutlich zu machen, was für eine idiotische Idee der Maat da gehabt hatte.
Heimlich machte sich allerdings ein wenig Furcht in ihm breit. Was, wenn die
Mannschaft des Schiffes ihre Chance für ein bisschen billige Rache an dem
unbeliebten Reeder sah? Er sah die niedrige Reling plötzlich mit anderen Augen.
Wie schnell konnte man einen Menschen in das Meer stürzen – und wie lange würde
man wohl den kleiner werdenden Positionslichtern des großen Frachters hinterhersehen,
bevor man endgültig in den Tiefen des Ozeans versank?
    Der Maat ließ sich jetzt nicht mehr von seiner Idee abbringen.
»Doch, du bist dieser John. Hast damals die ganze Zeit ein Gesicht aufgesetzt,
als ob du etwas Besseres wärst. Dabei hattest du sicher keine Ahnung, was dein
alter Herr von uns verlangt. Wer weiß, vielleicht hat er dich ja zu uns
geschickt, damit du schaust, wie man uns noch besser ausnehmen kann. Wen
interessiert es schon, dass alle Männer in den Maschinenräumen irgendwann das
reine Blut kotzen? Dein Vater stellt nicht so schnell auf Diesel um, der nicht.
Solange es noch Kohle in Neuseeland gibt, so lange lässt er seine Schiffe noch
damit fahren!«
    John hob abwehrend die Hände. »Ich habe wirklich keine Ahnung, von
was du da redest! Ich will einfach nur nach Hamburg …«
    Mit einer brüsken Bewegung riss der Maat die Tür zu der steilen
Stiege auf und rief in das Dunkel. »McTaggart? Bist du da? Komm doch mal hoch,
und schau dir an, was ich hier gefunden habe!«
    Augenblicke später betrat ein großer Mann das Deck. Offensichtlich
ein Maori-Mischling mit dunklen Augen, muskelbepackten Oberarmen und gut einen
Kopf größer als John. Er hatte ihn schon einige Male vor den Öfen gesehen, wenn
er scheinbar völlig mühelos Kohle schippte. Jetzt musterte ihn dieser Mann nur
einen kurzen Augenblick und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher