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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori
Autoren: Emma Temple
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hatte so viele Opfer auf dem Gewissen –
aber jetzt war er doch nur ein sterbender Greis.
    Der alte Mann schloss die Augen. Einen Moment lang glaubte John,
dass er sie nie wieder öffnen würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob er
noch atmete. Aber dann redete der Sterbende weiter. »Du hast dich also dein
ganzes Leben lang vor mir versteckt? Armselig. So armselig wie dein weichherziger
Vater und deine hochmütige Mutter. Ich hätte gleich wissen sollen, dass aus
diesem Material nichts Gutes kommen kann.« Die Stimme klang hart und
unbarmherzig.
    John machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten. »Deine Feinde
sind lange tot. Meine Mutter, mein Vater … und bei beiden hast du das Lebensglück
auf deinem Gewissen.«
    Â»Das haben die beiden nicht verteidigt. Es war so leicht, ihren
Reichtum zu nehmen. So einfach. Sogar dich, ihren Sohn, konnte ich rauben.
Dieses Land taugt nur für die Harten, die Unbarmherzigen, diejenigen, die keine
Rücksicht auf andere Menschen nehmen. So wie ich.« Er hustete, rang nach Atem
und lag dann wieder still da.
    Langsam schüttelte John den Kopf. »Du hast unrecht – und du weißt
es. Als dieses Land noch jung war, da mag es richtig gewesen sein, sich alles
einfach zu nehmen. Aber heute? Meine Frau hat ein Vermögen damit gemacht, Wale
eben nicht mehr zu töten. Auf so eine Idee wärst du gar nicht gekommen, habe
ich recht? Eine Boshaftigkeit nicht zu tun, sondern mit Freundlichkeit Geld zu
verdienen …«
    Â»Blödsinn. Ewan steht treu zu mir – und das hat nicht mit meiner
Freundlichkeit zu tun. Sondern nur mit meinem Geld. Das will er erben, und er
hofft, dass ich nicht auf so eine schwachsinnige Idee komme, dass er wieder
zurück ins Glied treten muss. Als Zweitgeborener winselt er jetzt um meine
Gunst, sonst würde er nicht jeden Tag hierherkommen!« Der Speichel aus dem Mund
des Alten sprühte über sein Kinn. John musste sich beherrschen, um nicht wie
bei einem kleinen Kind mit einem Taschentuch darüberzuwischen.
    Ewan war bleich geworden. »Das ist nicht wahr, Vater. Ich bin hier,
weil ich dich achte und weil ich nicht möchte, dass du hier allein liegen
musst. Was interessiert mich deine Reederei, wenn ich dich hier liegen und
leiden sehe?« Seine Hände zitterten ein wenig, als er mit ein paar fahrigen
Handbewegungen seine Aussage unterstreichen wollte. John fing an, Mitleid mit
seinem kleinen Stiefbruder zu haben. Von klein auf buhlte er um die Achtung und
die Freundschaft seines Vaters – und offensichtlich hatte er beides bis heute
nicht errungen. Schlimmer noch: George Cavanagh machte deutlich, dass er nichts
von seiner Achtung oder Zuneigung wissen wollte.
    Der Alte hustete wieder, länger und qualvoller dieses Mal. Seine
Hände krallten sich in das weiße Laken, die Ausschläge auf dem Herzmonitor wurden
flacher. John sah sich die Linie an. Bildete er sich das ein, oder wurde sie
wirklich unregelmäßiger?
    Ewan legte ihm die Hand auf den Arm. »Vater, du weißt nicht, was du
da sagst. Wenn du erst wieder gesund bist, dann reden wir über alles. Ich habe
dich immer bewundert, das musst du mir glauben.« Er zögerte eine Sekunde, bevor
er weiterredete. »Und ich bin mir sicher, dir tut es gut, wenn ich dir die
Neuigkeiten über Ava erzähle: Sie ist auf dem Weg der Besserung, kannst du dir
das vorstellen? John hat ihr sein Blut gegeben – und es sieht so aus, als sei
die Transplantation geglückt. Ist das nicht wunderbar?«
    Die dunklen Augen des Alten öffneten sich. »Ruihas und Avas
Urenkelin. Was für eine Ironie. Sie vereint also alles, was ich gehasst und
geliebt habe. Die wunderbare Ruiha und die arrogante Ava. Und beide wollten
nichts von mir wissen …«
    Ewan wurde von einer Sekunde auf die andere totenblass. »Es stimmt
also? Es ist wirklich wahr, was Sina da verbreitet? Ich bin der Sohn einer Maori?
Eines Dienstmädchens? Warum hast du immer behauptet, dass Miriam meine Mutter
sei?«
    Â»Miriam. Nutzloses Ding. Hatte auch nicht genug Kraft, um in diesem
Land zu leben. Ein Kind tot, und schon nimmt sie sich das Leben. Dabei war es
nur ein Mädchen.« Fast schien es, als ob der Alte in seinen letzten Stunden
noch einmal alle Boshaftigkeiten seines Lebens loswerden wollte. John spürte
nichts. Nicht einmal mehr Mitleid oder Entsetzen.
    Â»Vater, antworte mir!« Ewan rüttelte am Arm seines Vaters,
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