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Der Gesandte des Papstes

Titel: Der Gesandte des Papstes
Autoren: Christoph Lode
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geheimnisvolle Tunnel zur Mikweh befand. Sie durchquerte den unterirdischen Saal, um nachzusehen.
    »Rahel!«
    Erschrocken fuhr sie herum. Es war Mirjam, natürlich. Die Magd stand in der Tür, mit wütender Miene und einem Beutel in der Hand.
    Mit einem Schlag kehrte Rahels Verzweiflung zurück. Warum hatte sie sich nicht versteckt, als sie noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Jetzt war es zu spät. Und alles nur wegen ihrer dummen Neugierde.
    Mirjam versperrte ihr den Weg zurück in den Keller, also blieb ihr nur die andere Tür. Sie versuchte, den Türknopf zu drehen, doch er bewegte sich nicht. Wütend rüttelte sie daran. Vergeblich. Sie begann wieder zu weinen.
    »Nein!«, schrie sie, als Mirjam sie hochhob. »Ich will nicht! Lass mich runter! Ich will zu Mutter!«
    »Jetzt sei nicht kindisch. Du hast doch gehört, was sie gesagt hat.« Die Magd schulterte den Beutel und nahm sie auf den Arm. Rahel wehrte sich, doch Mirjams Griff war unnachgiebig. Mit der freien Hand holte sie einen Schlüssel aus ihrer Schürze und schloss die Tür auf. Dahinter erstreckte sich ein Gang, der sich nach wenigen Schritten in der Dunkelheit verlor.
    Rahel gab die Gegenwehr auf. Gegen Mirjam kam sie nicht
an. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in der Halsbeuge der Magd, obwohl sie Mirjam in diesem Moment hasste wie niemals zuvor.
    »Schsch, alles wird gut«, flüsterte die Magd. Ihre Stimme klang nicht mehr wütend. Sie strich Rahel über den Kopf, während sie dem dunklen Tunnel folgte.
    Nein, gar nichts wird gut!, wollte Rahel rufen, doch die Wut in ihr war Erschöpfung gewichen. Sie fühlte sich so einsam wie beim Tod ihres Vaters. Damals war es ihre Mutter gewesen, die sie in den Arm genommen und ihr über das Haar gestrichen hatte. Doch jetzt war ihre Mutter fort, und sie hatte nur noch Mirjam.
    Bald lichtete sich die Finsternis. Rahel hob den Kopf. Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht. Trümmer bedeckten den Boden, die Reste einer Mauer, die einst den Gang verschlossen haben musste. Mirjam stieg über die Steinbrocken und durchquerte eine kleine, leere Kammer. Durch eine offene Tür am oberen Ende einer kurzen Treppe fiel schwaches Tageslicht.
    Du musst jetzt leise sein, hörst du?« Mirjam setzte sie ab, nahm ihre Hand und stieg mit ihr die Stufen hinauf. Hinter der Tür befand sich das Wasserbecken der Mikweh, das von einem breitem Steinsims umgeben war, der Platz für mehr als ein Dutzend Menschen bot. Das Becken füllte den Boden eines runden, überdachten Schachtes aus, in dem sich eine Treppe nach oben wand. Rahel war zum letzten Mal vor einigen Wochen hier gewesen, als Judith, Ben Ephraims älteste Tochter, sich am Vorabend ihrer Hochzeit gereinigt hatte. Wie bei jedem Besuch des rituellen Badehauses hatte sie sich gefragt, was sich hinter der Tür befand, die niemals geöffnet wurde.
    Ben Ephraim … Ihr fiel wieder ein, was gerade in der Straße geschah; gleichzeitig nahm sie das Gebrüll von draußen wahr,
das gedämpft, aber nicht weniger Furcht erregend zum Grund des Schachtes drang. Ihr Griff um Mirjams Hand wurde fester.
    Sie gehorchte und gab keinen Laut von sich, während sie die Treppe emporstiegen. Mit jeder Stufe wurden die Schreie lauter. Das konnte nicht die Menge vor Ben Ephraims Haus sein. Das Anwesen des Geldverleihers war viel zu weit weg, und die Schreie waren viel zu nah. Gab es etwa noch eine Meute?
    Über dem Schacht der Mikweh stand ein schlichtes, rechteckiges Gebäude mit einem hölzernen Dach, einer Tür und mehreren Fensterschlitzen. Mirjam ließ Rahels Hand los, ging seitlich an eines der Fenster heran und spähte vorsichtig hinaus. Rahel wollte mit eigenen Augen sehen, was draußen vor sich ging. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über den Fenstersims blicken zu können.
    Es gab keine zweite Meute - die ganze Straße war voller Christen. Sie waren ins Tanzhaus eingedrungen und warfen Stühle, Bänke und Musikinstrumente aus den Fenstern. Eine Gruppe drängte sich vor der Synagoge zusammen und bewarf das Gotteshaus mit Steinen und Unrat. Die Männer brüllten Rabbi Abrahams Namen und forderten ihn auf herauszukommen, damit er den Dreck von ihren Stiefelsohlen leckte, wie es einem Judenschwein gebührte. Rahel entdeckte Noah, den Fleischer. Die Christen zerrten ihn aus seinem Haus auf die Straße und zwangen den wimmernden alten Mann auf die Knie, während ein Mann ihm ein Kruzifix vor das Gesicht hielt. »Küss das Kreuz, du Hund!«, brüllte der Christ. »Küss es, oder wir
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