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Der Gesandte des Papstes

Titel: Der Gesandte des Papstes
Autoren: Christoph Lode
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Tagen voller Menschen: Leute, die ihr über den Kopf strichen und sagten, sie sei groß geworden seit dem letzten Mal, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, auch nur einen von ihnen schon einmal gesehen zu haben. Von morgens bis abends saßen sie mit ihrer Mutter hinter verschlossenen Türen und redeten über Dinge, die eine Sechsjährige nichts angingen. Und auch wenn ihre Mutter einmal nicht mit den Fremden zusammensaß, hatte sie so schrecklich viel zu tun, dass sie für Rahels Fragen keine Zeit hatte. Inzwischen war Rahel davon überzeugt, dass man sie vergessen hatte. Es machte ihr nichts aus. Solange Mutter und Mirjam und alle anderen beschäftigt waren, schrieb ihr niemand vor, was sie tun sollte. Warum Louis und die anderen Christen so zornig auf Ben Ephraim waren, fand sie schon selbst heraus. Wenn sie etwas wirklich wissen wollte, fand sie es immer heraus.

    Der Lärm der Menge ließ nicht nach. Jemand schrie, Ben Ephraim sei ein gottloser Teufel, woraufhin Dutzende die Fäuste in Richtung der verrammelten Tür schüttelten. Ben Ephraim war nicht zu sehen, und mit klopfendem Herzen hoffte Rahel, dass er klug genug war, in seinem Haus zu bleiben.
    Die Fensternische im Dachstuhl war der beste Platz, um das Geschehen zu beobachten. Von hier oben aus konnte sie fast das ganze Viertel überblicken. Ihre Mutter war eine wohlhabende Tuchhändlerin und ihr Haus das größte der Straße. Elf Räume enthielt es und einen Keller voller englischer Wolle, die ihre Mutter zu feinen Stoffen verarbeiten ließ und nach Paris, Brabant und Oberlothringen verkaufte. Seit Rahels Vater vor zwei Jahren gestorben war und ihre Mutter die Geschäfte allein führte, herrschte in einigen Zimmern ein heilloses Durcheinander aus Gerümpel, Pergamentstapeln und verstaubtem Plunder. Niemand setzte einen Fuß hinein, nicht einmal Mirjam, Mutters Gehilfin. Mirjams Reich umfasste die Küche, den Vorratsraum und die Kräuterbeete im Innenhof, die das große Mosaik umgaben, auf dem ein Lebensbaum abgebildet war. Manchmal war Rahel den ganzen Tag bei ihr und lauschte den abenteuerlichen Geschichten, die Mirjam mit rauer Stimme erzählte. Meistens jedoch saß sie hier in der Fensternische, ihrem Lieblingsplatz, und träumte vor sich hin.
    Ein Gewirr aus Balken verlor sich im ewigen Halbdunkel; hier und da sickerte Licht durch Ritzen im Dachschiefer. Es roch nach feuchtem Holz und Moder, und es zog unentwegt, auch wenn das Fenster geschlossen war. Kisten, Körbe, Fässer und muffige Tuchballen, in denen Ratten nisteten, stapelten sich unter den Dachschrägen. Spinnen woben ihre Netze zwischen den Balken, schwarze Spinnen so groß wie ihre Handteller, mit haarigen Beinen. Der Dachstuhl war ein unheimlicher
Ort, trotzdem liebte sie ihn. Wenn man geduldig suchte, konnte man hier interessante Dinge finden. Im Frühjahr war sie auf ein Amselnest gestoßen, versteckt in einem winzigen Fensterschlitz. Jeden Morgen hatte sie nach den Jungvögeln gesehen - ein piepsendes Knäuel aus gierig aufgerissenen Schnäbeln, das alles verschlang, was sie mitbrachte -, bis sie eines Tages verschwunden waren. »Sie brauchen ihre Mutter nicht mehr«, hatte Rahels Mutter erklärt. »Sie sind flügge geworden. So wie du eines Tages.« Rahel hatte nicht verstanden, was das bedeutete.
    Sie begann zu frieren. Sie trug ihren Leinenüberwurf, der für den Rest des Hauses warm genug war, nicht aber für den zugigen Dachstuhl. Sie wollte gerade schon nach unten laufen und ihren Umhang holen, als die Menge mit Unrat zu werfen begann. Sie vergaß die Kälte und beobachtete gebannt, wie ein Hagelschauer aus fauligen Rüben und Fischabfällen gegen die Fensterläden prasselte. An der Tür zerplatzte ein Nachttopf und hinterließ einen sternförmigen braunen Fleck.
    Ben Ephraim musste wirklich etwas sehr Schlimmes getan haben.
    Erst jetzt fiel Rahel auf, dass auch die Fenster und Türen der Nachbarhäuser geschlossen waren. Ihre Hände umklammerten den Sims, während sie den Kopf weiter nach draußen reckte. Ja, sämtliche Häuser bis zur Mikweh am Ende der Straße waren verrammelt worden, als stünde ein schwerer Sturm bevor. Von den Bewohnern war niemand zu sehen, dabei hatte eben noch vor den Läden und Krämerstuben Gedränge geherrscht wie jeden Morgen. Jetzt war die Gasse wie leer gefegt, abgesehen von der tobenden Menge vor Ben Ephraims Haus.
    Rahels Herz klopfte schneller. Was hatte das alles zu bedeuten?

    Die Christen hörten auf, Abfall zu werfen. Die Menge teilte
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