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Der Gesandte des Papstes

Titel: Der Gesandte des Papstes
Autoren: Christoph Lode
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Sie drückte Rahel an sich und strich ihr über das Haar.
    Sie wusste es? Warum half sie Ben Ephraim dann nicht?
    »Geh jetzt«, sagte ihre Mutter zu der blonden Frau. »Sag dem Erzbischof, dass ich dich geschickt habe. Aber nimm den Tunnel zur Mikweh, das ist sicherer.«
    »Ja, Hohe Hüterin«, erwiderte die blonde Frau und wandte sich ab.
    Welcher Tunnel?, dachte Rahel. Und was bedeutet »Hohe Hüterin«?

    »Komm«, murmelte ihre Mutter. »Ich muss dir etwas sagen.« Sie ergriff ihre Hand und führte sie zu einer offenen Tür.
    Rahel war unbehaglich zu Mute, während sie das Zimmer mit der großen Tafel aus Zedernholz, an der die Erwachsenen den ganzen Tag gesessen hatten, durchquerte. Ihre Mutter öffnete die Tür zum Innenhof, und sie stapften den schneebedeckten Pfad zwischen Mirjams Kräuter- und Gemüsebeeten und dem Mosaik des Lebensbaums entlang, zur Brunnenkammer, Rahels zweitem Lieblingsplatz. Kostbare Wandteppiche mit verschlungenen rotgrünen Mustern verhüllten die grauen Steinwände. Auf einem Sockel gegenüber der Tür kauerte ein steinerner Seraph mit ausgebreiteten Schwingen. Ein leise plätschernder Strahl füllte ein kleines Becken zu Füßen des Engels. Die Flammen des Kaminfeuers spiegelten sich auf dem dunklen Wasser.
    Ihre Mutter setzte sich auf einen Stuhl beim Kamin. Sie war eine schöne Frau, groß, schlank, mit heller Haut, dunklen Augen und langem schwarzem Haar, das glatt und seidig schimmernd die Schulterblätter bedeckte. Sie arbeitete jeden Tag außer am Shabbat von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht und war immer müde. Heute schien sie noch erschöpfter als sonst zu sein.
    Sie nahm Rahel auf den Schoß. »Sag den Vers auf«, forderte sie ihre Tochter auf.
    »Warum? Ich habe ihn doch erst heute Morgen aufgesagt.«
    »Sag ihn auf. Bitte, Rahel.«
    Widerwillig gehorchte Rahel.
    »Hamakom bo yikpotz ha’dolfin
Hamakom bo yipagschu nakhash we’drakon
Hamakom bo yischte Jokhanan Ben Zekharya

Hamakom bo kawur Oyand
Hamakom bo yischkon Gratyan
Yar’eka Aharon Ben Yischma’el ha’natiw la’or«
    Sie lernte Hebräisch, seit sie drei Jahre alt war. Doch im Viertel wurde fast nur Französisch gesprochen, sodass ihr die ungewohnten Laute und Worte nur stockend über die Lippen kamen. Trotzdem machte sie keinen Fehler. Ihre Mutter hatte vor drei Wochen begonnen, ihr diesen seltsamen Vers beizubringen und ließ Rahel ihn mehrmals täglich aufsagen. Inzwischen konnte sie ihn im Schlaf. Wenn sie nur gewusst hätte, was er bedeutete …
    »Du darfst ihn niemals vergessen«, sagte ihre Mutter. »Versprich mir das, Rahel.«
    Da war etwas in ihrer Stimme, das Rahel nie zuvor gehört hatte. Ihre Mutter fürchtete sich. Dabei war sie es doch, die von allen im Viertel um Rat gefragt wurde, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Nachbarn hatte und stets wusste, was zu tun war. Sie hatte sich noch nie gefürchtet, nicht einmal an Vaters Totenbett.
    Rahel bekam Angst.
    Die Tür zum Innenhof öffnete sich. Mirjam kam herein. »Ich fürchte, uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte sie.
    Rahels Mutter nickte. Sie streifte sich das Lederband mit ihrem Kami’ah über den Kopf. Das kupferne Amulett schimmerte im Feuerschein. Es war Mutters Glücksbringer. Sie trug es immer bei sich. »Hör mir jetzt gut zu, Rahel«, sagte sie eindringlich. »Das Viertel ist in großer Gefahr. Damit dir nichts geschieht, wird Mirjam dich in Sicherheit bringen. Es sind Gaukler in der Stadt. Sie werden dich bei sich aufnehmen, bis die Gefahr vorüber ist. Ich möchte, dass du das Kami’ah trägst.

    In zwei Wochen komme ich dich holen. Wenn ich nicht komme, gehst du zur Synagoge von Barentin. Dort waren wir im Sommer, weißt du noch? Du zeigst Rabbi Meir das Kami’ah. Er wird dich bei sich aufnehmen, wenn er es sieht. Zum Dank sagst du den Vers auf. Hast du das verstanden?«
    Rahel schaute ihre Mutter an. Sie konnte nicht sprechen. Ihr war, als hätte sie jedes Wort, das sie jemals gelernt hatte, auf einen Schlag vergessen.
    »Wiederhole, was ich gesagt habe«, verlangte ihre Mutter.
    »Ich will nicht fortgehen«, brachte Rahel hervor.
    »Es ist nur für zwei Wochen, Rahel. Es muss sein.« Sie hängte ihr das Kami’ah um. »Es gehört dir. Es ist jetzt dein Glücksbringer.«
    Mirjam trat vor und streckte die Hand aus. »Komm, Rahel. Wir müssen gehen.«
    Ihre Mutter schickte sie fort. Schickte sie einfach fort, mit nichts als diesem dummen Amulett. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nein. Das würde sie
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