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Der gelbe Tod

Titel: Der gelbe Tod
Autoren: Robert W. Chambers
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Es konnte nach keinem bekannten Maßstab beurteilt werden, und obwohl Übereinstimmung herrschte, daß im »König in Gelb« die höchsten Töne der Kunst angeschlagen waren, fühlte jeder, daß die menschliche Natur nicht die Spannung ertragen noch Worte hervorbringen konnte, in denen der Geist des reinsten Giftes lauerte. Gerade die Alltäglichkeit und die Unschuld des ersten Aktes ließen den Schlag dann mit um so schrecklicherer Härte treffen.
    Es war, wie ich mich erinnere, der 13. Tag des April 1920, als die erste staatliche Todeskammer an der Südseite des Washington Square, zwischen Wooster Street und South Fifth Avenue eingeweiht wurde. Die Regierung hatte den Block, der ehemals aus einem Haufen schäbiger, alter Gebäude bestanden hatte, die als Cafés und Restaurants für Ausländer gedient hatten, im Winter 1898 gekauft. Die französischen und italienischen Cafés und Restaurants wurden abgerissen; der ganze Platz wurde mit einem vergoldeten Eisenzaun umgeben und in einen lieblichen Garten mit Rasenflächen, Blumen und Springbrunnen verwandelt. In der Mitte des Rasens stand ein kleines weißes Gebäude von streng klassizistischer Architektur, umgeben von Blumenbüschen. Das Dach ruhte auf sechs ionischen Säulen, und die einzige Tür war aus Bronze. Eine herrliche Marmorgruppe der ›Schicksalsgöttinnen‹ stand vor der Tür, eine Arbeit des jungen amerikanischen Bildhauers Boris Yvrain, der in Paris, erst dreiundzwanzigjährig, gestorben war.
    Die Einweihungsfeierlichkeiten waren im Gange, als ich den Campus überquerte und den Platz betrat. Ich bahnte mir einen Weg durch die schweigende Zuschauermenge, wurde aber an der Vierten Straße von einer Polizeisperre aufgehalten. Ein Ulanenregiment der Vereinigten Staaten stand aufgereiht in einem vertieften Quadrat um die Todeskammer. Auf einer erhobenen Tribüne gegenüber dem Washington Park stand der Gouverneur von New York, und hinter ihm drängten sich in einer Gruppe der Bürgermeister von New York und Brooklyn, der Oberinspektor der Polizei, der Kommandant der Staatstruppen, Colonel Livingston, der militärische Beistand des Präsidenten der Vereinigten Staaten, General Blount, der das Kommando auf der Gouverneursinsel führte, Generalmajor Hamilton, Kommandant der Garnison von New York und Brooklyn, Großadmiral Buffby vom North River, der Generalstabsarzt Lanceford, die Belegschaft des National Free Hospitals, die Senatoren Wyse und Franklin von New York und der Minister für Staatsbauten. Die Tribüne war von einem Husarenschwadron der Nationalgarde umstellt.
    Der Gouverneur war im Begriff, seine Antwort auf die kurze Ansprache des Stabsarztes zu beenden. Ich hörte ihn sagen: »Die Gesetze bezüglich des Selbstmordverbotes und der Bestrafung eines jeglichen Versuchs der Selbstzerstörung sind aufgehoben worden. Die Regierung hat es für richtig gehalten, das Recht des Menschen anzuerkennen, eine Existenz zu beenden, die vielleicht für ihn unerträglich geworden ist, sei es aus physischem Leiden oder geistiger Verzweiflung. Es ist unsere Überzeugung, daß es der Gemeinschaft zugute kommen wird, wenn solche Menschen aus ihrer Mitte entfernt werden. Seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ist die Selbstmordrate in den Vereinigten Staaten nicht angestiegen. Nun, da sich die Regierung entschlossen hat, in jeder Stadt und in jedem Dorf im Lande eine Todeskammer einzurichten, bleibt abzuwarten, ob diese Gattung menschlicher Kreaturen, aus deren verzweifelten Reihen täglich neue Opfer der Selbstzerstörung hervorgehen, die so angebotene Erlösung annehmen werden.« Er hielt inne und wandte sich der weißen Todeskammer zu. Auf der Straße herrschte vollkommene Stille. »Dort erwartet den, der die Sorgen seines Lebens nicht länger ertragen kann, ein schmerzloser Tod. Wem der Tod willkommen ist, der möge ihn hier suchen.« Dann wandte er sich schnell an den militärischen Beistand des Präsidenten und sagte: »Ich erkläre die Todeskammer für eröffnet«, und dann rief er, während sein Blick über die riesige Menschenmenge schweifte, mit klarer Stimme: »Bürger von New York und der Vereinigten Staaten von Amerika, durch meine Person erklärt die Regierung die Todeskammer für eröffnet.«
    Ein scharfer Kommandoruf beendete jäh das feierliche Raunen, die Husarenschwadron bezog hinter der Gouverneurskutsche Stellung, die Husaren machten kehrt und formierten sich entlang der Fifth Avenue, um auf den Garnisonskommandeur zu warten, und die berittene
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