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Der gelbe Tod

Titel: Der gelbe Tod
Autoren: Robert W. Chambers
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Broadway hinaufgeritten kam und hätte der Einweihung gerne zugesehen, aber ihr Vater wünschte, daß die Fahne beendet würde, und sie war auf seine Bitte hin zu Hause geblieben.
    »Haben Sie Ihren Vetter, Mr. Castaigne, dort gesehen?« fragte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Beben ihrer sanft geschwungenen Wimpern.
    »Nein«, erwiderte ich gleichgültig. »Louis’ Regiment befindet sich im Manöver draußen in Westchester County.« Ich erhob mich und nahm meinen Hut und meinen Stock.
    »Gehen Sie wieder hinauf zu dem Verrückten?« lachte der alte Hawberk. Wüßte Hawberk, wie sehr ich das Wort »Verrückter« verabscheue, er würde es in meiner Gegenwart niemals gebrauchen. Es erweckt Gefühle in mir, die ich nicht erklären möchte. Ich antwortete jedoch ruhig: »Ich glaube, ich werde auf einen Augenblick bei Mr. Wilde hineinschauen.«
    »Der arme Kerl«, sagte Constance und schüttelte den Kopf. »Es muß schwer sein, Jahr für Jahr allein zu leben, verkrüppelt und nahezu schwachsinnig. Es ist sehr, sehr nett von Ihnen, Mr. Castaigne, daß Sie ihn so oft besuchen.«
    »Ich glaube, er ist bösartig«, bemerkte Hawberk, indem er wieder zu hämmern anfing. Ich lauschte dem goldenen Klirren auf den Beinplatten. Als er fertig war, erwiderte ich:
    »Nein, er ist nicht bösartig, und er ist auch nicht im mindesten schwachsinnig. Sein Geist ist eine Zauberkammer, aus der er Schätze hervorbringen kann, die zu erwerben Sie und ich Jahre unseres Leben hingeben würden.«
    Hawberk lachte.
    Ich fuhr ein wenig ungeduldig fort: »Er kennt die Geschichte wie sonst keiner. Nichts, wie alltäglich auch immer, entgeht seinem Forschen, und sein Gedächtnis ist so vollkommen, so präzise bis in die kleinste Kleinigkeit, daß die Leute, wäre es in New York bekannt, daß solch ein Mann existiert, ihm nicht genug Ehrerbietung erweisen könnten.«
    »Unsinn«, brummelte Hawberk und suchte auf dem Boden nach einer heruntergefallenen Niete.
    »Ist es Unsinn«, fragte ich, und es gelang mir, meine Gefühle zu unterdrücken, »ist es Unsinn, wenn er sagt, daß die Quasten und die Beinschiene der verzierten Rüstung, die allgemein als ›des Prinzen Wappengeschmückte‹ bekannt ist, sich unter einem Haufen verrosteter Theaterrequisiten, zerbrochener Herde und Abfällen von Lumpensammlern in einer Dachkammer in der Pell Street befindet?»
    Hawberks Hammer fiel zu Boden, aber er hob ihn wieder auf und fragte mit großer Ruhe, woher ich wisse, daß die Quasten und die linke Beinschiene von »des Prinzen Wappengeschmückter« fehlten.
    »Ich wußte es nicht, bis Mr. Wilde es kürzlich erwähnte. Er sagte, sie lägen in der Dachkammer der Pell Street 998.«
    »Unsinn«, rief er, aber ich bemerkte, daß seine Hand unter dem Lederschurz zitterte.
    »Ist es auch Unsinn«, fragte ich freundlich, »ist es Unsinn, wenn Mr. Wilde fortwährend von Ihnen als dem Marquis von Avonshire spricht und von Miss Constance –«
    Ich beendete meinen Satz nicht, denn Constance war aufgesprungen, und Entsetzen sprach aus jedem ihrer Züge. Hawberk sah mich an und strich langsam über seine Lederschürze. »Das ist unmöglich«, bemerkte er, »Mr. Wilde mag viele Dinge wissen –« »Über Rüstungen beispielsweise und ›des Prinzen Wappengeschmückte‹«, warf ich lächelnd ein.
    »Ja«, fuhr er zögernd fort, »auch über Rüstungen – möglicherweise – aber er irrt sich in bezug auf den Marquis von Avonshire, der, wie Sie wissen, nachdem er den Verleumder seiner Frau vor Jahren getötet hatte, nach Australien ging und dort seine Frau nicht lange überlebte.«
    »Mr. Wilde irrt sich«, murmelte Constance. Ihre Lippen waren blutleer, aber ihre Stimme war süß und ruhig.
    »Wenn Sie es wünschen, wollen wir uns darauf einigen, daß Mr. Wilde sich in diesem einen Punkt irrt«, sagte ich.
    II
    Ich stieg die drei verfallenen Treppen hinauf, die ich schon so oft betreten hatte, und klopfte an eine kleine Tür am Ende des Korridors. Mr. Wilde öffnete die Tür, und ich trat ein.
    Als er die Tür zweifach verschlossen und eine schwere Truhe davor geschoben hatte, kam er heran und ließ sich neben mir nieder und blickte mit seinen kleinen, hellen Augen zu mir auf. Ein halbes Dutzend neuer Kratzer bedeckten seine Nase und seine Wangen, und die Silberdrähte, mit denen seine künstlichen Ohren befestigt waren, waren verrutscht. Ich glaube, er war mir noch nie auf so abscheuliche Weise faszinierend erschienen. Er hatte keine Ohren. Die künstlichen, die jetzt im
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