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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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Vater kam an jenem Tag als Erster heim, wog den schweren Umschlag in seiner Hand, ging damit hinaus in die Laube und öffnete ihn vorsichtig mit einem Messer. Selbst das zischende Geräusch, als das Messer durch das Papier schnitt, meinte Sascha nach all den Jahren deutlich zu hören. Das Knistern der vielen Blätter, als der Vater sie auseinanderfaltete, das Poltern des fallenden Stuhls, als er aufsprang und ihn, Sascha, hochhob und herumwirbelte.
    Schon eine Stunde später war es eng im Haus und in der Laube geworden. Djadja Pawel besaß ein Auto, und er war losgefahren, besorgte Wodka und Brot. Mutter und Tjotja Alja öffneten Gläser mit eingelegten Paprika, Gurken und Tomaten, schnitten Wurst in dicke Scheiben, und er selbst lief zwischen den Nachbarn und Freunden umher und konnte nur denken: Morgen in der Schule! Morgen sage ich: »Wir gehen nach Deutschland. Nein. Wir fliegen. Wir fliegen nach Deutschland.«
    Vika saß auf dem Schoß von Babuschka und schlief. Sie war drei Jahre alt. Tante Alja strich ihr über die roten Pausbacken und lachte: »Sie ahnt ja nicht, was für ein Glückskind sie ist.«
    Der tränenreiche Abschied von Babuschka Galina, Onkel Pawel und Tante Alja lag dünn unter der aufgeregten Neugier auf das neue Land. Die zweistündige Fahrt nach Alma-Ata, der Flughafen, die Zwischenlandung in Moskau und auch der Weiterflug, den er wohl über weite Teile verschlafen hatte, war ihm kaum noch im Gedächtnis. Aber die Landung in Hannover hatte er nicht vergessen.
    Es war ein blendend heller Tag. Er erinnerte sich, dass sie sich im Flughafengebäude zusammen mit anderen Aussiedlern in einer Halle versammelt hatten, die mit taubenblauem Teppichboden ausgelegt war, und dass sie alle ihre Schuhe ausgezogen hatten. Eine Dolmetscherin erklärte verlegen lächelnd, dass das nicht nötig sei, aber niemand hatte die Schuhe wieder angezogen, es wäre ihnen wie ein Frevel vorgekommen. Später waren sie in einen blinkenden Mercedesbus gestiegen, dessen Motorengeräusche man im Innern kaum hörte. Er hatte den sauberen Asphalt der Straßen ebenfalls für Teppichboden gehalten und den Vater gefragt, ob ganz Deutschland mit diesen Teppichen ausgelegt sei.
    Im Übergangslager bekamen er und Viktoria am ersten Abend je eine Tafel Schokolade geschenkt. Der Vater öffnete das Papier vorsichtig, faltete das Silberpapier auseinander, ohne es zu beschädigen. Weiße Schokolade. Er traute seinen Augen nicht. Jeder von ihnen aß an diesem Abend ein Stück. Die Süße breitete sich in seinem Mund aus, und als die Schokolade geschmolzen war, versuchte er, die cremige Flüssigkeit so lange wie möglich im Mund zu behalten.
    Am nächsten Tag waren sie in einen Supermarkt gegangen. Der Leiter des Übergangslagers hatte dem Vater Geld gegeben. Sie waren durch die Gänge geirrt, und er hatte nicht gewusst, wohin er schauen sollte. Ängstlich hatte er nach der Hand des Vaters gegriffen. Die Mutter stand in der Obst- und Gemüseabteilung, strich mit ausgestrecktem Zeigefinger vorsichtig über Avocados, Papayas und Mangos und fragte immer wieder: »Ossip, was ist das … und das … und das?«
    Der Vater hatte ihn an sich gedrückt und geflüstert: »Wir haben es geschafft, Saschenka. Jetzt wird alles gut.«
    Aber dann war nichts gut geworden.
    Das Erste, was sie ihm in der neuen Heimat auf dem Einwohnermeldeamt genommen hatten, war sein Vatersname »Ossipowitsch« gewesen. Ab jetzt hieß er nicht mehr Alexander Ossipowitsch Grenko, sondern nur noch Alexander Grenko, genannt Sascha. Nicht, dass ihn jemand bei seinem vollen Namen gerufen hätte, aber trotzdem spürte er den Verlust, und abends hatte er den Vater gefragt: »Bin ich jetzt nicht mehr dein Sohn?«
    Hatte damit alles begonnen?
    In den Jahren danach hatte er oft gedacht: Wenn sie mir den Namen gelassen hätten, wären mir auch die Eltern und Vika geblieben. Das war natürlich Unsinn, und inzwischen glaubte er nicht mehr an Gesetzmäßigkeiten. Das Leben war Chaos. Zumindest das seine entzog sich jeder Logik, und die Art, wie er als Kind und Jugendlicher von einer Katastrophe in die nächste gestolpert war, war mit Ursache und Wirkung nicht zu erklären.
    Er hatte für sich die These entwickelt, dass die Menschen wie Planeten in einer Umlaufbahn existierten. Jede Begegnung, so stellte er sich vor, nahm Einfluss auf diesen Orbit, war wie ein Stoß, der die Bahn veränderte. Manchmal waren es nur kleine Stöße, aber manchmal eben auch harte, die dem Leben eine vollkommen
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