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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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worden war. Die Bundesrepublik Deutschland. An Babuschka Galina erinnerte er sich gut, an ihre große, gebeugte Gestalt und die langen grauen Haare, die sie zu einem Knoten zusammengesteckt trug. Sie saß immer bescheiden am Rand, selbst auf den Fotos, die er später zusammen mit den Eltern und seiner Schwester Viktoria ansah, so als sei sie zufällig mit auf das Bild geraten. Wenn sie ihr zahnloses Lächeln zeigte, sprangen Tausende von Fältchen in ihrem gegerbten Gesicht auseinander, und die großen braunen Augen blitzten auf. Im Winter saß sie in dem grauen weiten Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, am Ofen. Sie schälte Kartoffeln, schnitt Rüben klein oder knetete in der rostgefleckten Emailleschüssel geschickt den Brotteig. Im Sommer trugen sein Vater und sein Onkel sie mit dem Stuhl hinaus in die mit Wein bewachsene Laube hinter das kleine Haus, das aus nur drei Zimmern bestand.
    »Ungefähr sechzig Quadratmeter für sieben Menschen«, sagte Vater, wenn sie zusammen die Bilder betrachteten und er der Meinung war, der Sohn habe die Enge vielleicht schon vergessen. Von diesen Fotos gab es nicht viele, aber die wenigen abgegriffenen Schwarzweißaufnahmen hatte Saschas Mutter Maria, kaum dass sie im Übergangslager in Deutschland angekommen waren, sorgfältig mit Fotoecken auf Kartonseiten geklebt und in ein Ringbuch geheftet. Dieses Buch wurde immer wieder hervorgezogen und war Ausgangspunkt all der Geschichten, die das Heimweh mildern sollten.
    An einen dieser Abende erinnerte er sich genau. Sie hatten im Übergangswohnheim auf ihren Stockbetten gesessen. Viktoria, die von allen nur Vika genannt wurde, lag im oberen Bett. Ihr Kopf baumelte über den Rand des Etagenbettes, und sie betrachtete die Bilder aus der Vogelperspektive, flüsterte schläfrig »Babuschka« oder »Tjotja Alja«, während er zwischen seinen Eltern auf dem unteren Bett saß und das Album auf den Knien hielt. Sie sprachen leise miteinander, denn die Halle, in der sie vorübergehend wohnten, teilten sie mit acht anderen Familien, die darauf warteten, dass man ihnen eine Wohnung zuteilte.
    Der Vater strich über ein Bild, das ihn zusammen mit Djadja Pawel vor dem Haus zeigte. Babuschka Galina saß auf diesem alten Holzstuhl mit dem nachträglich angebrachten Weidengeflecht an den Seiten. Die Dorfstraße war nichts als ein gestampfter Lehmweg, auf dem große Pfützen standen. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er die Großmutter nur auf dem Matratzenlager liegend kannte und auf diesem Stuhl. Er entsann sich ihres herben Schweißgeruchs und ihrer Wärme, in die sie ihn und Vika in kalten Winternächten mit den von der Gicht verkrüppelten Händen hineinzog, wie eine Katze, die die Jungen mit der Pfote in ihren Schutz rollt.
    »Warum konnte Babuschka nicht laufen?«, fragte er.
    Der Vater strich ihm über den Kopf und flüsterte: »Das erzähle ich dir, wenn du alt genug bist.«
    Er nahm das Album und klappte es zu. »Schlafenszeit«, sagte er, und dann fügte er hinzu: »Du musst wissen, dass der Name Grenko in Russland lange Zeit ein großer Name war.«
    Wie aufgeregt er an jenem Abend in seinem Bett gelegen hatte, ganz damit beschäftigt, sich mit kindlicher Phantasie diese geheimnisvolle Andeutung auszumalen. An Könige und große Krieger hatte er gedacht, an geheime, vergrabene Schätze.
    Sascha sah auf die erloschenen Bildschirme, wanderte in Gedanken weiter zurück.
    Auch an den Tag, an dem die Ausreiseerlaubnis kam, konnte er sich erinnern.
    Es war ein warmer Maitag, und als er aus der Schule kam, lag ein Brief auf dem Küchentisch. Die Eltern hatten in der Vergangenheit immer wieder Ausreiseanträge gestellt, und wenn die Ablehnungen eingetroffen waren, war die Stimmung über Tage gedrückt gewesen.
    Babuschka Galina sagte: »Der ist viel dicker als die, die bisher gekommen sind«, und er hatte sehnsüchtig darauf gewartet, dass die Eltern von der Arbeit heimkehrten und ihn öffneten.
    In der Schule riefen sie ihm »Faschist« hinterher, weil seine Mutter eine Wolgadeutsche war. Auch einige der Lehrer nannten ihn so. Er wusste nicht, was genau damit gemeint war, nur dass es ein Schimpfwort war, aber er hörte immer auch eine Spur von Neid, wenn sie es sagten, weil es diese Möglichkeit in sich barg. Diese Möglichkeit auszuwandern. Schon in der ersten Klasse hatte er erklärt, dass er nicht lange bleiben würde, dass seine Familie bald nach Deutschland ginge, aber in der zweiten Klasse glaubte ihm das niemand mehr.
    Der
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