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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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fragte sich, warum ausgerechnet heute der Flur menschenleer war. Einer der Bühnenarbeiter kam ihnen entgegen. Spontan rief Ilja ihm zu: »Bitte informieren Sie meine Frau, dass ich verhaftet wurde.« Sofort wurde er grob weitergestoßen. Der Arbeiter hielt einen Augenblick inne, sah erst ihn und dann die beiden Männer erstaunt an. Dann senkte er den Kopf und ging eilig weiter.
    Am Ende des Ganges, unmittelbar vor dem Personaleingang, befand sich die Pförtnerloge. Wassili Iwanowitsch Jarosch saß in seiner abgetragenen Pförtneruniform in dem kleinen Glaskasten und blickte erschrocken von seiner Zeitung auf.
    »Man hat mich verhaftet, Wassili Iwanowitsch. Bitte geben Sie meiner Frau Bescheid«, rief Ilja, als sie die Loge passierten. Einer der Männer öffnete die Tür zur Seitenstraße und stieß ihn hinaus.
    Ilja drehte sich noch einmal um, sah, wie Wassili sich erhob und ihnen nachsah.
    Unsanft bugsierte man ihn auf die Rückbank eines schwarzen Autos. Erst jetzt nahm er wahr, dass er immer noch seinen Geigenkoffer mit sich trug.
    »Meine Geige.« Angst machte seine Stimme spröde und leise. »Bitte, kann ich meine Geige beim Pförtner abgeben.«
    Der Mann, der im Fond des Wagens Platz genommen hatte, wandte sich ihm zu.
    »Was ist denn los, Ilja Wassiljewitsch?«, fragte er lächelnd. »Wenn das alles ein Missverständnis ist, bist du mitsamt deinem Geigenkasten in ein paar Stunden wieder zu Hause.« Er beugte sich zu Ilja, dem ein säuerlicher Atem entgegenschlug. »Oder hast du Grund, daran zu zweifeln?«
    Ilja drehte den Kopf zur Seite, starrte zum Seitenfenster hinaus. Die Lichter Moskaus eilten vorbei, Menschen, die auf den Straßen den lauen Abend genossen. Das gleiche Bild hätte er mit seiner Frau auf dem Weg nach Hause gesehen, und doch wäre es ein anderes gewesen. Er hätte es mit anderen Augen betrachtet, er wäre Teil dieses Bildes gewesen. Wahrscheinlich hätte er es nicht einmal bewusst wahrgenommen. Nicht die Leichtigkeit der Schritte, nicht die Umarmung eines Liebespaares unter einer Laterne.
    Er wusste, dass die Fahrt zur Lubjanka ging.
    Er dachte daran, dass sein Lehrer Professor Meschenow noch vor wenigen Stunden beim Mittagessen zu Gast in seinem Haus gewesen war. Meschenow, der ihm in seiner Zeit als Student am Konservatorium Mentor und Vaterfigur gewesen war, hatte ihn morgens angerufen und sich mehr oder weniger selbst eingeladen. Das Gespräch während des Essens war seltsam oberflächlich gewesen, und immer wenn Ilja versucht hatte, ihm von seinen Reisen zu erzählen, von seinen Begegnungen mit anderen international bekannten Musikern, hatte Meschenow abgeblockt. Später hatte der Alte ihn gedrängt, ihm den Garten zu zeigen. »Iljuscha, ich freue mich sehr über deinen Erfolg, aber deine ständigen Reisen ins Ausland … du tust dir keinen Gefallen, verstehst du?«
    Er hatte lächelnd geantwortet: »Ehrenwerter Meschenow, Sie wissen, wie unpolitisch ich bin. Mein Leben gehört der Musik und meiner kleinen Familie.«
    Der Alte strich sich über den ergrauten Backenbart und wich Iljas Blick aus. »Versprich mir, in den nächsten Monaten hierzubleiben. Sag deine Reisen ab«, flüsterte er eindringlich, und dabei wanderten seine kleinen braunen Augen unruhig über die Fenster des Hauses. »Alexei Rybaltschenko ist in Zürich. Es wird behauptet, er ist im Ausland geblieben, weil er bei seiner Rückkehr eine Verhaftung gefürchtet habe. Es gibt Gerüchte, dass man Musikern, die sich häufig im Ausland aufhalten, Feindkontakte oder antisowjetische Agitation unterstellt.«
    Er sprach leise, fast ein bisschen beschwörend. Ilja war schockiert. Natürlich war auch er in Paris und London auf angebliche Verhaftungswellen in seinem Land angesprochen worden. Er hatte Gespräche, die in diese Richtung gingen, immer sofort beendet. Das war feindliche Propaganda, das wusste man doch.
    Er hatte es Meschenow gegenüber vorsichtig formuliert, hatte einige der ausländischen Kollegen aufgezählt, die ihn darauf angesprochen hatten, und gesagt, dass man doch wisse, dass das alles nicht stimme.
    Meschenow hatte lange geschwiegen und dann gesagt: »Du warst doch in Europa. Wo spielen sie? In Paris? In London? In Amsterdam? Du wirst doch von ihnen gehört haben, von ihren Konzerten und Erfolgen? Hattest du Kontakt zu ihnen?«
    Der Alte hatte ihn mit fragend hochgezogenen Augenbrauen direkt angesehen. Ilja war zusammengezuckt. Fragte Meschenow ihn tatsächlich, ob er Kontakt zu Verrätern hatte? Oder wollte
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