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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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andere Richtung gaben. Dabei spielte es keine Rolle, wie nahe man jemandem stand oder wie viel man mit ihm zu tun hatte. Er war vor achtzehn Jahren von einem Menschen aus seiner Bahn katapultiert worden, den er nie kennengelernt hatte. Nur die Scheinwerfer seines Autos hatte er gesehen. Mehr nicht.
    Sascha fuhr sich mit beiden Händen durch das dichte braune Haar, das er kurz trug und das meist in alle Richtungen abstand. Er schob den Schreibtischsessel zurück. Sein Flug nach München ging um 19.30 Uhr. Er packte seinen Laptop, zwei T-Shirts und einen schlichten Stoffbeutel mit Zahnbürste, Zahnpasta und Deodorant in den kleinen Alukoffer, ging hinüber in Regers Büro und schrieb ihm eine kurze Notiz. Dann fuhr er zum Flughafen.
    Wenige Monate nach dem tödlichen Unfall der Eltern war auch Viktoria verlorengegangen. Sie war, aber das erfuhr er erst sehr viel später, adoptiert worden, und er hatte nie wieder von ihr gehört. Es war seine Schuld gewesen. Er hatte nach Hause gewollt, hatte ohne die Eltern nicht in diesem fremden Land bleiben wollen.
    Als er sich eines Morgens weigerte, in die Schule zu gehen, hatte ihm die Erzieherin gedroht: »Wenn du nicht lieb bist, schickt man euch zurück nach Kasachstan.« Er hatte seine Chance gesehen und alles darangesetzt, nicht lieb zu sein. Aber sie hatte gelogen. Stattdessen kam er in ein anderes Heim, fort von Vika. Immer wieder war er abgehauen, hatte sich tagelang rumgetrieben, immer auf der Suche nach Vika. Irgendwann hatte man ihm gesagt, dass Vika adoptiert worden sei. Da war er endgültig alleine gewesen. Tagelang hatte er sich ganz taub gefühlt vor Einsamkeit.
    Er war weiterhin weggelaufen, ziellos, getrieben von der kindlichen Idee, dass er sie treffen würde, wenn er sich nur lange genug auf den Straßen aufhielte. Später, in den geschlossenen Erziehungsheimen und dann in der Jugendstrafanstalt, fand er sich ab, redete sich ein, dass Vika in einem schönen Haus bei freundlichen Leuten lebte.
    Jetzt hatte sie ihn gefunden und schlicht gesagt: »Sascha, ich bin in Schwierigkeiten. Es geht um unsere Vergangenheit, und ich brauche deine Hilfe.«
    Er hatte keine Sekunde gezögert. »Ich komme«, antwortete er, und erst Minuten später, als sie längst aufgelegt hatte, war ihm klargeworden, dass er sie tatsächlich wiedersehen würde. Seine kleine Schwester Viktoria.
    Eine halbe Stunde später hatte er in der Pension angerufen und darum gebeten, Viktoria Freimann auszurichten, dass er um 20.40 Uhr in München landen würde.

Kapitel 3
    I ljas Frau Galina Petrowna Grenko war mit ihren ein Meter achtundsiebzig eine außergewöhnlich große Frau. Ihr feingeschnittenes Gesicht mit den mongolisch hohen Wangenknochen und dem pechschwarzen Haar, das sie meist kunstvoll hochgesteckt trug, erregte überall Aufmerksamkeit. Nach dem Konzert war sie im Saal geblieben, hatte Freunde und Bekannte begrüßt, Komplimente und Grüße an ihren Mann entgegengenommen und immer wieder die Frage beantwortet, wann sie wieder auf der Theaterbühne zu sehen wäre. Die Geburt ihres zweiten Sohnes war schwierig gewesen, und man hatte ihr eine längere Spielpause zugestanden, aber in einem Monat, verriet sie, würde sie die Arbeit am Mchat-Theater wieder aufnehmen und mit den Proben zu einem neuen Stück beginnen. Sie lachte fröhlich, obwohl ihr nicht danach war. Vor dem Konzert hatte sie mit Meschenow gesprochen, und Galina war in Sorge.
    Ilja lebte für seine Musik, war im Schutz des Konservatoriums aufgewachsen. Das begabte Kind, von dem man alles ferngehalten hatte. Und später hatte sie diese Rolle übernommen, hatte seine Welt vor störenden Einflüssen geschützt. Für Ilja waren Willkür oder gar Boshaftigkeit undenkbar.
    Galina erinnerte sich an ihre erste Begegnung vor sieben Jahren. Auch das war hier im Tschaikowsky-Konservatorium gewesen. Ilja hatte ein Solokonzert gegeben, und sein Spiel, seine Interpretationen der einzelnen Stücke waren voll unschuldiger Lebenslust gewesen. Damals verliebte sie sich genau in diese naive Lebensfreude. Auf dem anschließenden Empfang war er fröhlich, geradezu übermütig gewesen, war auf sie zugekommen und hatte, ungeachtet ihres Begleiters, gesagt: »Sie sind wunderschön. Ich kann einfach nicht aufhören, sie anzusehen.« Dann hatte er einen der Fotografen gebeten: »Bitte, Sie müssen ein Bild von mir zusammen mit dieser Frau machen, damit ich sie für immer ansehen kann.«
    Aber jetzt würde sie ihn nicht weiter schonen können. Meschenow
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