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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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schrille Läuten ertönte in einem Zimmer gegenüber, aus dem eine dürre, stark geschminkte Frau mittleren Alters erschien.
    »Zimmer nur ab einer Woche«, knurrte sie ohne Begrüßung und stakste auf viel zu hohen Absätzen hinter die Theke. Dann erst nahm sie wahr, dass der Mann vor ihr ziemlich gut aussah, und lächelte.
    »Wir hatten telefoniert«, sagte Sascha freundlich. »Ich habe Sie gebeten, Frau Freimann zu informieren, dass ich heute Abend ankomme … Sie ist meine Schwester.«
    Dieser nachgeschobene Satz klang albern, aber er hatte das Bedürfnis, es laut auszusprechen, hätte am liebsten noch hinzugefügt, »wir haben uns fast zwanzig Jahre nicht gesehen. Das ist nicht irgendein Besuch. Das ist etwas ganz Besonders«, aber er schwieg.
    »Ach Sie? Ja, ja, Ihre Schwester«, bemerkte sie ein wenig ironisch. »Die Freimann ist nicht da. Die arbeitet um diese Zeit.«
    Sie fingerte mit ihren langen roten Fingernägeln einen Schlüssel aus dem Fach Nummer acht und schob ihn zusammen mit einem gepolsterten Umschlag über den Tresen. »Sie hat mir gesagt, ich soll Ihnen das geben und Sie aufs Zimmer lassen. Gegen ein Uhr ist sie zurück.«
    Auf dem Kuvert stand in steiler Schrift: Sascha Grenko. Er sah auf die Uhr. »Können Sie mir sagen, wo sie arbeitet?«
    In Anbetracht der Unterkunft und dieser Frau fürchtete er die Antwort.
    Die hob ihre aufgemalten Augenbrauen, schob die kirschroten Lippen vor und zuckte mit den Schultern. »Sie spielt seit ein paar Tagen im Holiday Inn.«
    »Spielt?«, fragte er.
    »Ja. Sie spielt Klavier in der Bar.« Ihre Stimme hatte wieder diesen spöttischen Unterton. »Dafür, dass Sie ihr Bruder sind, wissen Sie aber reichlich wenig.«
    Sascha nahm den Zimmerschlüssel und das Kuvert an sich und verließ kommentarlos die Pension. Im Auto gab er »Holiday Inn« in das Navigationsgerät ein, dann öffnete er den Umschlag. Er fand einen weiteren Schlüssel und einen Zettel. »Hallo Sascha, ich bin so froh, dass du so schnell kommen konntest. Der Schlüssel gehört zu einem Schließfach am Hauptbahnhof. Nimm ihn bitte an dich. Bis später, Viktoria.«
    Er legte den Umschlag und den Zettel ins Handschuhfach und steckte den Schlüssel in seine Sakkotasche. Das Navigationsgerät zeigte eine Entfernung von 0,4 Kilometern zum nächsten Holiday Inn an, und er entschied, zu Fuß zu gehen.
    Auf dem Weg zum Hotel griff er nach dem Schließfachschlüssel in seiner Tasche. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass er nichts über seine Schwester wusste. Vielleicht war sie krank, oder sie hatte sich in irgendeine phantastische Geschichte hineingesteigert, jedenfalls schien ihm die Sache mit dem Schließfachschlüssel merkwürdig.
    Schon in der Eingangshalle des Hotels wehte ihm leise Klaviermusik entgegen. Er durchquerte die geräumige Lobby, und seine Schritte hallten auf dem hellen, marmorierten Fliesenboden nach. An den Wänden hing großformatige moderne Kunst. Er dachte an die schäbige Pension. Seine Schwester lebte offensichtlich in zwei grundverschiedenen Welten.
    Er ging unter einem hohen, offenen Bogen hindurch und stand in der Bar. An der langen, indirekt beleuchteten Theke und in Sitzgruppen aus breiten Ledersesseln saßen einige Gäste. Am Klavier entdeckte er Vika. Gekonnt spielte sie kleine Jazzimprovisationen und schien ganz in die Musik versunken. Ihr dunkles Haar war kurz geschnitten, und das nachtblaue, hochgeschlossene Kleid betonte ihre schlanke Gestalt. Sascha bemerkte, dass einige Männer sie unverhohlen anstarrten, und dachte, dass das Hotel Vika nicht nur ausgewählt hatte, weil sie ausgezeichnet Klavier spielte.
    Er setzte sich an die Bar, bestellte einen Cocktail und betrachtete sie. Er wollte sie nicht stören, würde sie begrüßen, wenn sie eine Pause machte. Einmal hob sie den Kopf, blickte sich um und sah auch kurz in seine Richtung. Sie erkannte ihn nicht. Wie auch? Sie waren Kinder gewesen, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Ihre großen graublauen Augen, die ihm in Erinnerung geblieben waren und die schon damals einen außergewöhnlichen Kontrast zu ihrem dunklen Haar bildeten, hatten etwas Suchendes. Suchte sie ihn?
    Ein dumpfes Plopp war zu hören, und er sah zum Barmann hinüber, dachte an das Öffnen einer Champagnerflasche. Vika unterbrach ihr Spiel. Ein plötzlicher Missklang aus vielen Tönen gleichzeitig, als sie vornübersackte und ihr Oberkörper auf das mittlere Tastenfeld fiel. Eine Frau in einer der Sitzgruppen schrie auf. Sascha und zwei
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