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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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er ihn auf etwas hinweisen?
    Tatsächlich war er diesen russischen Kollegen weder begegnet, noch hatte er von ihnen gehört oder gelesen. Er schob den Gedanken beiseite, dachte an seine Einladung nach Wien und seinen Antrag, auf diese Reise die Familie mitzunehmen. Galina, seine Frau, wusste nichts davon. Wenn die Reiseerlaubnis kam, würde er sie damit überraschen.
    Auf Meschenows Frage hatte er nicht geantwortet.
    Als sie zum Haus zurückgingen, sagte der Alte noch einmal eindringlich: »Iljuscha, ich bitte dich, die Wienreise abzusagen.«
    Kurze Zeit später, Meschenow hatte sich verabschiedet, war er zurück ins Wohnzimmer gegangen. Galina saß, den einjährigen Ossip auf dem Arm, in einem Sessel, und sein dreijähriger Sohn Pawel spielte ganz vertieft mit seinen Bauklötzen auf dem Teppich.
    Er strich Pawel über den Blondschopf und entschied, sich in Wien vorsichtig nach den Musikern im Exil zu erkundigen.

    Sie umfuhren den menschenleeren Platz vor der Lubjanka. Hier flanierte niemand. Hier hielt man sich nicht auf. »Vorplatz zur Hölle« wurde er hinter vorgehaltener Hand genannt. Schwer und monumental lag das ockerfarbene Gebäude da. Der Haupteingang war im Verhältnis geradezu klein und unscheinbar. In etlichen Fenstern brannte Licht, obwohl es bereits auf Mitternacht zuging.
    Er atmete tief durch. Es würde sich aufklären. Was immer man ihm vorwarf, er würde es richtigstellen und dann nach Hause gehen.
    Der Wagen fuhr an die Westseite des Gebäudes. Eine Schranke öffnete sich. Wenige Meter dahinter passierten sie ein Tor und hielten in einem Hof. Ilja fühlte sich augenblicklich völlig isoliert, es war ihm kaum begreiflich, dass er sich immer noch mitten in Moskau befand. Er umschlang seinen Geigenkoffer mit den Armen und presste ihn schützend an sich wie ein Kind.
    Sie zogen ihn aus dem Wagen. Er wurde einige Stufen hinunter und dann durch einen spärlich beleuchteten Gang geführt. Hinter einer Art Tresen erhob sich ein Uniformierter. Er stellte einen Pappkarton auf die Theke und forderte ihn auf, seinen Geigenkasten, den Mantel, die Fliege, den Gürtel und seine Schnürsenkel abzugeben. Im Rücken des Beamten zogen sich Holzregale ins Dunkel, randvoll mit identischen Kartons.
    »Aber …«, Ilja rang nach Luft. »Das ist ein Irrtum. Bringen Sie mich zuerst zu jemandem, der mir sagt, was man mir vorwirft. Sie können mich doch nicht, ohne mich vorher angehört zu haben …« Seine Empörung ließ ihn laut werden.
    Einer der Männer, die ihn hergebracht hatten, griff mit einer Hand nach dem Violinkoffer und riss ihm dann mit der anderen die Fliege vom Hals. »Der Mantel, den Gürtel, die Uhr und die Schnürsenkel«, schnauzte er.
    Ilja konnte das Zittern in seinen Händen kaum unterdrücken, während er seinen Gürtel abnahm und die Schnürsenkel aus den Schuhen zog.
    Zuletzt kontrollierten sie seine Hosentaschen und legten auch das Taschentuch auf den Tresen. Er war jetzt gezwungen, seine Hose festzuhalten, um zu verhindern, dass sie ihm von der Hüfte rutschte. Sie packten ihn zu beiden Seiten an den Oberarmen und führten ihn durch eine schwere Eisentür. Er stolperte drei Stufen hinunter, und eine weitere Tür wurde geöffnet. Der pelzige Geruch feuchter Mauern, vermischt mit beißendem Uringestank und säuerlichem Schweiß, schlug ihm entgegen. Er rang nach Luft. Er hörte Stöhnen und Wimmern. Sein Herz raste, und für einen Moment glaubte er zu ersticken. Links von ihm wurde ein Riegel mit metallischem Quietschen geöffnet, eine Tür aus groben Holzbohlen schwang auf. Ilja spürte Hände in seinem Rücken, stolperte vor und fiel. Wieder das metallische Quietschen.
    Er fand sich auf dem Zementboden einer Zelle wieder. Der Raum war klein und ohne Fenster, der Boden und die Wände fleckig. Über ihm hing hinter einer Gitterabdeckung eine nackte Glühbirne. In einer Ecke stand ein Eimer, der, nur notdürftig gereinigt, nach Exkrementen stank. Daneben lag eine filzige graue Decke. Kein Bett, kein Stuhl. Sollte er hier die ganze Nacht verbringen?
    Automatisch sah er auf sein linkes, nacktes Handgelenk. Er dachte, dass sie seine Sachen in diesen Karton gelegt hatten und er keine Quittung besaß. Wie spät mochte es sein. Mitternacht? Vielleicht halb eins. Keine Quittung für seine Geige. Er nahm die Decke, wagte nicht, sie auseinanderzufalten, legte sie an die hintere Wand auf den Boden und setzte sich darauf. Er versuchte, gleichmäßig durch den Mund zu atmen, kämpfte gegen die Übelkeit.
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