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0827 - Der Dämon von Songea

0827 - Der Dämon von Songea

Titel: 0827 - Der Dämon von Songea
Autoren: Andreas Balzer
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Songea, Tansania
    Das Denkmal lag mitten in der Stadt, doch kaum jemand wusste noch, wen es eigentlich darstellte. Das Gesicht des zur Fettleibigkeit neigenden Mannes war längst verwittert. Der rechte Arm, den die steinerne Gestalt jahrzehntelang siegesgewiss in die Höhe gereckt hatte, war zur Hälfte abgebrochen.
    Sein Heldenmut bei der Niederschlagung des Aufstandes von 1905-1907 bleibt unvergessen , sagte eine halb verwitterte Inschrift, und darunter war der Name des Geehrten verzeichnet: Major a.D. Heinrich von Smolders. Bezirksamtmann von Songea (1900-1907). Dass der tapfere Kolonialbeamte keineswegs im Kampf gestorben war, sondern an einer banalen Malaria-Erkrankung, verschwieg das Ehrenmal wohlweislich.
    Deutsch-Ostafrika war längst mit dem deutschen Kaiserreich untergegangen, und weder die Briten, die bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1961 die Kontrolle über das heutige Tansania übernommen hatten, noch die einheimische Bevölkerung hatten allzu viel übrig für deutsche Kolonialhelden. So war es wohl ein Zeichen von Toleranz oder auch nur von schlichtem Desinteresse, dass sie das Denkmal trotzdem an seinem Platz ließen, wo es langsam aber sicher dem Zahn der Zeit zum Opfer fiel.
    Das Leben im Südwesten des Landes war hart. Die Bewohner hatten schon so vielen Stürmen des Lebens getrotzt, dass ein kleines reales Unwetter sie kaum erschrecken konnte. Als sich der Sturm über der kleinen Stadt zusammenbraute, zogen sich die Einwohner in ihre kargen Behausungen zurück und hofften, dass er bald vorbei sein würde.
    Ein kalter Wind pfiff durch die Straßen und ließ die Wellblechhütten am Stadtrand erzittern. Der Himmel verdüsterte sich in Sekundenschnelle und ein Platzregen ergoss sich sintflutartig über die Stadt. Doch etwas war anders an diesem Sturm. Er schien ein Ziel zu haben.
    Dunkle Nebelschwaden jagten durch die menschenleeren Straßen auf das Denkmal des Kolonialbeamten zu und umwirbelten die steinerne Gestalt, bis Bezirksamtmann Heinrich von Smolders in tiefster Schwärze versank.
    Die wenigen Stadtbewohner, die das unheimliche Geschehen durch ihre Fenster beobachteten, wandten sich schnell ab und bekreuzigten sich. Aber insgeheim wussten sie, dass Gott ihnen nicht helfen würde. Hier waren Kräfte am Werk, die das Land schon Jahrtausende, bevor der erste christliche Missionar afrikanischen Boden betreten hatte, beherrscht hatten.
    Das nervenzerfetzende Heulen des Windes nahm immer noch zu, und in ihm glaubten die verängstigten Einwohner von Songea ein wildes Gelächter zu hören.
    Die dunklen Wolken hatten sich verzogen, als sich die ersten Anwohner wieder aus ihren Häusern wagten. Die überwiegend unbefestigten Straßen versanken im Wasser. Als die Mutigsten nach dem Denkmal sahen, stockte ihnen der Atem: die Statue war verschwunden. Mit einer Kraft, die kein Sturm dieser Welt besaß, hatte der Wind die Erinnerung an Major a.D. Heinrich von Smolders in einen Haufen zerborstener Steine verwandelt.
    ***
    Tebika
    »Nein, nicht du! Du bist tot. Bleib weg von uns!«
    Mit einem erstickten Schrei fuhr Kiango hoch. Panisch sah er sich um, doch das Zimmer lag so ruhig und friedlich da wie immer.
    »Es war nur ein Traum«, beruhigte er sich, ohne recht überzeugt zu sein. Zu realistisch war das, was er gesehen hatte, so als hätte er im Schlaf Schichten der Realität berührt, die den Lebenden normalerweise aus gutem Grund verborgen blieben.
    An Schlaf war nicht mehr zu denken. Mit zittrigen Händen zündete Kiango die Kerze auf dem Nachtisch an. Der flackernde Lichtschein fiel auf ein vergilbtes Foto an der Wand, das Kiangos Urgroßvater und einen der berühmtesten Männer-Tansanias zeigte: Kinjikitile, den legendären Anführer des Maji-Maji-Aufstandes gegen die deutschen Kolonialherren.
    »Jetzt sehe ich auch schon Geister. Das hätte dir gefallen, du alter Schwarzkünstler«, sagte Kiango, während er in seine Soutane schlüpfte und die Kette mit dem großen goldenen Kreuz umlegte. Der 46-Jährige war der Priester eines kleinen Dorfes namens Tebika, gut 60 Kilometer von Songea entfernt.
    Während Kiango das Porträt betrachtete, dachte er unwillkürlich wieder an seinen Traum. Er konnte sich nur noch an wenige Details erinnern, an Schreie, Berge von Leichen und - Wasser. Und da war dieser Mann. Ein hagerer Weißer mit militärisch kurz geschnittenen Haaren und Schnurrbart in einer deutschen Kolonialuniform. Der dünne, grausame Mund war zu einem höhnischen Grinsen verzogen.
    Vater Kiango hatte
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