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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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dass das Ersehnte dann für ewig vorhalten kann. Obwohl nichts für ewig vorhält.
    Das Geräusch ließ sie aufspringen. Es war dunkel geworden, und Koffer und Tüten standen noch vor dem Haus. Sie schaltete die Lampe ein, ehe sie zur Haustür ging. Die Gestalt in der Türöffnung überraschte sie so sehr, dass sie aufschrie.
    »Oh! Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe. Ich bin’s nur. Niklas.«
    Sie kniff die Augen zusammen und konnte trotz des trüben Lichts den Mann ihr gegenüber identifizieren. Natürlich war es Niklas. Jetzt streckte er ihr die Arme entgegen.
    »Hallo, Inga. Willkommen auf Marstrand.«
    Sie ließ sich einige wenige Augenblicke umarmen und sog den Geruch seiner Jacke nach Waschmittel und Kaffee in sich ein. Unpassenderweise fragte sie sich in diesem Moment, ob Niklas noch immer so viel Zeit mit seiner Geige verbrachte wie in seiner gesamten Jugend. Obwohl er niemals Berufsmusiker geworden war. Niklas war einer aus der »Clique« gewesen. Sie konnte sie vor sich sehen, Jungen und Mädchen am Meer und im Zauberwald, Jugendliche im elternfreien Sommerraum. Niklas war der, der kein Aufhebens um sich machte, aber schneller lief als die anderen, defekte Haartrockner reparierte und andere zum Zug fuhr. Sie hatten sich einige Male geküsst, leicht beschwipst nach einem Fest. Wie viele Jahre waren vergangen, seit sie jeden Sommer miteinander verbracht hatten? An die fünfundzwanzig, sie war ja noch mit über zwanzig jeden Sommer auf Marstrand gewesen und immer zurückgekehrt, wenn auch nicht jedes Jahr.
    Wann hatten sie sich zuletzt gesehen? Vermutlich bei der Beerdigung. Und wann hatten sie miteinander gesprochen? Vielleicht einmal im Monat, danach. Niklas war einer von denen,
die angerufen hatten. Nicht oft, aber gelegentlich und nicht nur während der ersten Wochen.
    Niklas lächelte.
    »Du hast dich nicht verändert. Ich habe Wasser und Heizung in Gang gebracht, wie du siehst. Mein Alter konnte sich genau daran erinnern, wie das geht, ich brauchte mich nur an seine Anweisungen zu halten. Sogar die Arbeitshandschuhe lagen da, wo er gesagt hatte. Aber ich wollt doch mal hereinschauen und sehen, ob du irgendwas brauchst.«
    »Wie geht es denn Harald?«
    »Nicht so schlecht. Er sieht ja fast nichts, ist aber immer guter Laune. Klagt wirklich nie. Er kann nicht mehr viel tun. Er hört Radio. Und er kann noch immer kleine Spaziergänge auf den Wegen machen, die er gut kennt.«
    Vor dem Fenster lag jetzt undurchdringliche Dunkelheit. Niklas folgte ihrem Blick.
    »Dein Koffer steht draußen. Und ein paar Tüten, sehe ich. Soll ich dir irgendwas ins Haus tragen?«
    »Ich habe gar nicht so viel mitgebracht. Aber wenn du vielleicht …«
    Nicht um ihr Leben wollte sie zugeben, dass sie Angst davor hatte, nach draußen zu gehen und ihre gesamten Habseligkeiten selbst ins Haus zu schleppen. Sie hatte niemals Angst vor der Dunkelheit gehabt und es immer genossen, nachts auf zu sein und einen Himmel weit außerhalb der Städte zu betrachten, wo die Sterne deutlicher waren als irgendwo sonst. In einem Sommer hatte sie geglaubt, dass sie auf dem Land viel größer seien als in der Stadt. Bis sie dann in der Schule entdeckt hatten, dass sie kurzsichtig war, und bis ihr dann aufgegangen war, dass die Himmelskörper in ihren Umrissen zerliefen. Eine scheußliche Brille hatte ihnen die richtigen Proportionen zurückgegeben. Jetzt benutzte sie Kontaktlinsen.

    Niklas war schon auf dem Weg durch die Tür. Er kehrte zurück und stellte den Koffer ins Schlafzimmer und die Kartons in die Küche.
    »Hast du schon gegessen?«
    »Unterwegs eine Kleinigkeit.«
    Das war natürlich gelogen. Sie hatte nur ein paar Äpfel gegessen und in einer Raststätte einen Tee getrunken.
    »Eine Kleinigkeit, hast du gesagt, und unterwegs? Das muss doch Stunden her sein. Ich hab es geahnt. Deshalb hab ich Hackfleisch und Kartoffeln mitgebracht. Wenn du auspacken und dich frischmachen willst oder so, dann kann ich Essen machen und im Kamin ein Feuer anzünden. Ich habe nachgesehen, ob der Schornstein sauber ist.«
    »Hast du denn Zeit genug?«
    Weitere Fragen wollte sie nicht stellen. Niklas hatte mehrere Beziehungen gehabt. Alle hatten vier, fünf Jahre gedauert, es waren schöne und intelligente Frauen gewesen. Warum ging es immer zu Ende? Sie hatten einmal darüber gesprochen. Niklas hatte gesagt, es wäre keine Katastrophe, wenn er als Junggeselle endete. Er könne sich selbst durchaus als »Onkel Niklas« sehen, hatte er gesagt. Eine
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