Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
Vom Netzwerk:
Prolog
    Der Mond wandert droben am Himmel so blau, sang Vater für mich. Jetzt sehe ich den Mond durch den Vorhangspalt, aber der Mond wandert nicht mehr, er starrt mich an und teilt mir mit, dass Nacht ist. Ich höre in Gedanken Vaters Stimme und spüre seine Hand in meiner. Ich bin immer bei dir. Wenn du mich lässt.
    Meine Gedanken wirbeln umher, und ich weiß nicht mehr, was Wirklichkeit ist und was Traum.
    Aber der Mond zieht das Wasser an, und ich sehe vor meinem inneren Auge, wie das Meer sich hin und her bewegt, wie es die Felsen streichelt, wie die Frau den Mann streichelt und der Mann die Frau. Plötzlich ist er da, er, der wartet und den ich niemals vergessen habe, auch wenn ich das vortäuschte. Ich spüre die Wärme in meinem Körper, dem Körper, der einst ich war, was unbegreiflich ist, wenn ich sehe, was noch übrig ist.
    Ich ahne seine Hände um meine Taille, und da ist wieder die Musik, und ein Tanz, obwohl ich das alles nicht darf. Jetzt führt er mich herum, eins, zwei, drei, alles dreht sich, und ich bekomme keine Luft mehr und habe keinen Boden mehr unter den Füßen, und er küsst mich …
    Wasser. Ich brauche Wasser.
    Ich wirbele zwischen meinen Gedanken umher. Jetzt bin ich in dem Zimmer, in dem ich ihr damals zum ersten Mal begegnet bin. Ihr, die aussieht wie ich, die jedoch ein Muttermal hat, als habe die Natur sich mit ihr einen Scherz erlaubt. Bald kommt sie, ich weiß, dass sie kommt, und sie wird meine Hand halten,
so, wie ich Vaters Hand gehalten habe, wenn das Licht gelöscht wurde.
    Ich friere, und es tut ein wenig weh, ich muss mich umdrehen, ich ziehe die Decke fest um mich. Dann höre ich ein Lachen, und meine Augen füllen sich mit Tränen.
    Ich habe geliebt. Das kann niemand mir wegnehmen.
    Nicht einmal das Meer, das das verbarg und auswarf, was die Menschen vernichtet hatten, dessen Wellen das nahmen, was ich am meisten liebte. Ich spüre, wie die Wellen sich um mich schließen, und ich will und will nicht, sehe aber ein, dass alles bald vorbei sein wird.
    Die Zeit ist gekommen. Die Sünden der Väter werden dich heimsuchen, heißt es, aber das glaube ich nicht.
    Wenn uns irgendwelche Sünden heimsuchen, dann unsere eigenen.

Kapitel 1
2005
    Die Fotos, die vor ihr auf dem Tisch verteilt waren, hätten gute Besprechungen verdient. Sie hatte viel Zeit in sie investiert und sich alle Mühe gegeben, die Motive zu finden, die zum Motto der Ausstellung passten. Veränderung.
    Es war eigentlich ein banales Thema, aber gerade deshalb eine Herausforderung. Sie mochte Herausforderungen, wenn sie ihnen gewachsen war. Anfangs konnten sie sich in Schultern oder Bauch als Spannung festsetzen. Aber Ablehnen kam für sie nicht in Frage. Im tiefsten Inneren wusste sie, dass sie die Fähigkeit besaß, das Einzigartige zu finden, das, was die Menschen berührte und sie im besten Fall mehr empfinden ließ als sonst.
    Wie viele Tage hatte sie beim Zirkus verbracht? Viele, aber Zeit war nicht von Bedeutung, wenn es darum ging, die Wirklichkeit einzufangen, die sie im Sucher sah. Diese Vorstellung war für sie beruhigend und gab ihr stets das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
    Sie ergriff das oberste Foto. Die Akrobatin hatte sich einen klangvollen Künstlernamen gegeben, hieß aber eigentlich Barbara und kam aus Ostdeutschland. Jung und kräftig hatte sie ausgesehen, als sie über ein Seil balancierte, das unter dem Zeltdach gespannt war, doch die Kamera hatte eine andere Wahrheit eingefangen. Das Foto zeigte ein Gesicht, in dessen Falten
sich die Schminke sammelte und sie dadurch noch tiefer wirken ließ. Der Lippenstift verschmiert, die Wimpern verklumpt. Nach einigen Wochen und vielen Gläsern Wein hatte Barbara gestanden, dass alles mit den Jahren nur noch schlimmer werde. Sie hatte von der grenzenlosen Panik berichtet, die sie vor jeder Vorstellung überkam, und dass die Angst vor dem Sturz fast zu einem Wunsch geworden war.
    »Damit es einmal ein Ende hat. Verstehst du, Inga? Dieses verdammte Leben.«
    Inga hatte sich um professionelle Vorsicht bemüht und den richtigen Augenblick abgewartet. Und dann endlich abgedrückt. Wenn Barbara jemals vom Seil fiele, wäre es für alle auf dem Foto erkennbar, welche Angst die scheinbar so mutige Akrobatin davor gehabt hatte. Davor, die Kontrolle zu verlieren.
    Wäre es möglich gewesen, die Verzweiflung in ihren Augen zu mildern? Die Schatten über den plump gepuderten Wangen zu vertiefen? Sicher, aber das hier war absolut akzeptabel. Ihre Leica zeigte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher