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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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aufzunehmen. Das Haus gelb mit weißen Ecken, glänzend und frisch angestrichen. Alle Türen und Fenster offen, Sommerwärme und der Duft von gekochter Rote Bete. Sie selbst in der Hocke zwischen den Steinen unten am Wasser, zusammen mit der Nachbarstochter. »Jetzt hab ich einen Krebs gefunden. Und ich hab einen Krebs gefunden. Und ich hab noch einen Krebs gefunden.«
    Die Menschen. Papa und Mama. Opa. Kusinen, Vettern. Verwandtschaft bis ins Unendliche. Eine Kakophonie aus Geräuschen und Stimmen. Matratzen, die herangeschleppt wurden, Ausziehsofas, die zu zusätzlichen Betten wurden, die anderen mussten im Notfall im Schuppen schlafen. Sonntags Feste. »Jetzt gehen wir alle ins Restaurant, ich lade euch ein.« Onkel Ivar, natürlich. Die ewige Kabbelei zwischen Papa und Onkel Ivar darum, wie viel Kuchen man zum Kaffee nehmen durfte, wenn ins Restaurant eingeladen wurde. Opa, der immer nach Mama suchte und fragte, warum sie sich in der Mansarde verkroch und las, statt mit den anderen zusammenzusein. Solveig, Papas Kusine, die zu erklären versuchte, dass man hier in ständiger Bewegung sein müsse. »Immer mit irgendetwas beschäftigt wirken, die ganze Zeit, auch wenn das gar nicht stimmt.«
    Zwischendurch Streit. Laute Stimmen. Rendezvous, sanktioniert durch die Ehe, doch wegen der allgemeinen Enge trotzdem verstohlen. »Verzeihung, aber wo steht der Kaffee? Mach verdammt noch mal die Tür zu!« Und Lachen. In den Sommern, die nie ein Ende nahmen.
    Sie fror und schlang sich die Arme um den Leib. Es war noch
immer warm für November, aber trotzdem lag eine gewisse Resignation in der Luft. Die Dunkelheit war da und würde mit jedem Abend näher herankriechen. Hier unten würde man das noch deutlicher merken.
    Eine ausgestreckte Hand. Ein Karton mit Habseligkeiten. Ein Trauring. In dem ihr Name stand.
    Nicht daran denken. Nicht jetzt. Später.
    Sie ging zur Haustür und schaute auf die Uhr, die oben in der Ecke angebracht war. Die Bronzefarbe war fast verschwunden, aber als sie an der Schnur zog, ertönte ein vorsichtiges Klingeln, wie zu einem um Jahre verspäteten Essen. Sie ließ die Schnur los, schob den Schlüssel ins Schloss und musste erst einmal drücken und pressen. Die Tür öffnete sich mit einem Ächzen, sie konnte das Haus betreten.
    Ein Geruch von stickigem Sommerhaus schlug ihr entgegen, aber auch etwas anderes. Wärme. Niklas war also mit seinem alten Schlüssel im Haus gewesen und hatte die Heizung eingeschaltet. Ohne die Schuhe auszuziehen, ging sie durch die Zimmer. Es kam ihr vor, wie ein Puppenhaus zu betreten, mit dem sie als Kind gespielt hatte, und vielleicht war das ein besseres Bild ihres Lebens, als sie zugeben wollte. Sie hatte mehrere Jahre in einem Puppenhaus gelebt, ohne die große Hand zu bemerken, die die Gegenstände bewegte.
    Die Küche mit Platz für einen Esstisch und viele Münder. Die Spitzengardinen vor dem Fenster. Eine geblümte Vase. Sie öffnete Schränke und entdeckte Desserttellerchen mit Goldrand. Das hellgelb gestrichene Schlafzimmer. Bibelsprüche und ein gerahmter Engel an der Wand. Zwei Betten, geschmückt mit weißen Tagesdecken.
    Im Badezimmer drehte sie den Hahn auf und trat einen Schritt zurück, als das Wasser fauchend losspritzte. Niklas hatte es offenbar ebenfalls eingeschaltet. Er hatte versprochen, zu
tun, was er konnte, als sie ihn angerufen hatte, hatte sie aber vorgewarnt, er sei nicht sicher, ob alles noch funktionierte. Sie hatte ihn gebeten, einen Versuch zu unternehmen, und im Grunde darauf vertraut, dass dem so war. Schließlich hatte damals sein Vater Harald das Haus betreut und die Modernisierungsarbeiten geleitet. Er lebte noch und war klar im Kopf, wenn er auch nicht mehr gut sah. Harald würde sich an das erinnern, was er nicht sehen konnte, und den Sohn richtig lotsen. Wie ein Vater eben lotst.
    Das Wohnzimmer. Sofa an der Wand, offener Kamin, Regal voller Bücher und alter Zeitungen. Die Bibel. Der silberne Leuchter. Die Veranda mit dem Fenster zur Natur. Ein Stück Meer. Die Erinnerung an nackte Füße im Gras, unterhalb der Felsen, hinten bei den Klippen und im Wasser.
    Sie drehte sich um. Schaute den offenen Kamin und den Korb daneben an, der mit alten Holzscheiten gefüllt war. Dann fiel sie auf die Knie und konnte keinen Schritt weitergehen.
    Ab und zu entglitt ihr die Zeit, aber sie wusste , dass es ziemlich genau zwei Jahre her war, dass sie einen freundlichen Geistlichen ins Haus gelassen und dass dessen Worte ihr Leben verändert
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