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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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ihr das Motiv im Sucher auch in dem Bruchteil jener Sekunde, in dem das Bild belichtet wurde. Sie hatte geliefert, was sie gewollt hatte: Nähe und Präzision in perfekter Vereinigung. Die lichtstarke Optik mit dem kristallklaren Glas ohne Verunreinigungen. Sie musste die Verkrümmungen am Bildrand eben wie das Ergebnis einer bewussten Entscheidung akzeptieren. Jedenfalls hatte sie das gewünschte Resultat.
    Geduld und Erfahrung hatten das Ihre bewirkt: Genauigkeit. Sie versuchte immer, mehr zu liefern als erwartet, und das verlangte sehr viel Kraft. Aber es war schwer zu akzeptieren, was »gut genug« war, und aus »ausreichend« eine Tugend zu machen. Obwohl sie wusste, dass sie das ab und zu tun müsste, um sich zu schonen.
    »Möchtest du etwas trinken?« Izabella, die Besitzerin der Galerie, war aufgestanden. Ihre eng sitzenden Hosen machten
es unmöglich, sich vorzustellen, dass sie schon fast siebzig war. Inga musterte die Furchen in Izabellas Gesicht. Die waren ganz anders als Barbaras. Izabellas Furchen zeugten von Lachen und Selbstvertrauen, Barbaras dagegen von Verzweiflung und Kummer.
    »Ja, danke.«
    Die hochmoderne Espressomaschine war noch ein Grund, warum sie so gerne in Izabellas Galerie ausstellte. Wenn ihr ein dampfendes Glas Kaffee serviert wurde, ließ die Spannung im Nacken ein wenig nach. Sie stellte das Glas vorsichtig ab, um den Fotos nicht zu schaden, und suchte das Bild, mit dem sie vielleicht am zufriedensten war. Von einem Hügel aus hatte sie eingefangen, wie die letzte Vorstellung sich dem Finale näherte, während die Zirkusleute hinter den Kulissen bereits zusammenpackten. Als die letzte Lampe gelöscht wurde und das Publikum durch den Vorderausgang das Zelt verließ, stand der Hinterausgang schon nicht mehr.
    Sie wandte sich Izabella zu.
    »Das hier ist Veränderung. Und dann doch wieder nicht. Ein Zirkus wird aufgebaut und abmontiert. Er zieht weiter. Aber er sieht fast genauso aus wie vor hundert Jahren. Also lebt er von Veränderung, verändert sich aber nie. Deshalb dachte ich, dieses Bild wäre für die Einladung zur Vernissage geeignet. Wenn du mir zustimmst. Barbara, die Seiltänzerin, könnte an der langen Wand hängen. Ich kann die Bilder so vergrößern, wie du sie haben willst.«
    Izabella beugte sich vor und begutachtete die Fotos. Sie entschied sich immer rasch, und Inga rechnete damit, in ungefähr einer Stunde fertig zu sein. Danach wollte sie nach Hause fahren und für den Rest des Nachmittags und Abends arbeiten. Mårten würde doch erst in zwei Tagen nach Hause kommen, und sie könnte auch gleich einige Stapel aussortieren, um mehr
Zeit zu haben, wenn er wieder da war. Sie sehnte sich danach, ihm die fertigen Bilder zu zeigen. Niemand konnte so gute Ratschläge geben wie er, mit dem aufrichtigen Wunsch, dass sie Erfolg haben würde. Deshalb war seine Kritik immer konstruktiv, niemals verletzend.
    Sie schüttelte den Kopf, denn plötzlich ging ihr auf, dass Izabella etwas gesagt hatte.
    »Verzeihung, ich hab nicht zugehört. Was …?«
    »Also, ich habe gesagt, dass du ungeheuer tüchtig bist, Inga. Du hast eine unglaubliche Fähigkeit, Menschen und ihre Gefühle einzufangen. Ganz zu schweigen von deinen technischen Kenntnissen. Du bist perfekt. Und vielleicht liegt es daran, dass diese Bilder hier … dass sie mir nichts sagen.«
    »Ach.«
    Die Antwort kam wie ein Reflex, und sie merkte, wie eine unangenehme Ruhe sich in ihrem Körper ausbreitete.
    »Das kann mehrere Ursachen haben. Die Bilder sind, wie gesagt, perfekt. Die Angst ist deutlich, und die Idee, dir einen Zirkus vorzunehmen, war natürlich großartig. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir die Menschen, die wir hier ansehen, nicht wirklich kennenlernen. Es sind Abbildungen von Körpern, die ihren Zweck hervorragend erfüllen, aber sie berühren mich nicht richtig.«
    Izabella streckte die Hand aus und versuchte, sie auf ihren Arm zu legen. Inga wich zurück und suchte Schutz in ihrem Kaffeeglas. Sie trank, um die roten Flecken in ihrem Gesicht zu verbergen. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie spürte sie. Meinte Izabella, sie nutze die Menschen aus, die sie fotografierte?
    »Das sollte nicht negativ klingen. Ich denke an dein Können und deine Energie. Nicht an das Mitmenschliche. Ich kenne nur wenige, die so herzensgut sind wie du.«

    »Aber du meinst nicht, dass die Fotos zu gebrauchen sind? Oder soll ich einfach nur etwas ändern?«
    Izabella gab keine Antwort, sondern erhob sich und verschwand im
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