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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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mehrere verkrümmte Holzskelette und machte ein Bild nach dem anderen. Sie dachte nicht weiter darüber nach, was sie hier tat, sondern fotografierte in einer seltsamen Mischung aus Freude über diesen Tag und Trauer beim Gedanken an alle, die ihr Leben auf See verloren hatten. Wie viele waren es wohl im Laufe der Jahre gewesen, die über Bord geschleudert worden waren, schreiend vor Panik oder in stummer Hinnahme des Todes in den Wellen? War es ein Witz oder stimmte es, dass viele Seeleute nicht schwimmen lernten, damit der Tod sich beim Ertrinken so schnell und schonend wie möglich einstellte? Sie wusste es nicht. Aber die Bilder der aufgelassenen Schiffsteile, des grauen Holzes, stellenweise überwuchert von Seegras oder Schnecken, erwiesen
sich als emotionaler als gedacht. Izabella verkaufte alle Bilder einige Monate später auf einer Ausstellung.
    »Waren die besser als die Zirkusbilder, was meinst du?«
    Izabella seufzte ein wenig. Ihr Schlüsselbein zeichnete sich unter dem Stoff ihrer Bluse deutlicher ab als sonst.
    »Du brauchst dich mit niemandem zu vergleichen. Schon gar nicht mit dir selbst. Ich sage nur, dass du zugänglicher wirst, wenn du ein wenig spontan bist. Die Bootsbilder waren von seltener Schönheit. Sie hatten eine Unschuld des Augenblicks an sich, wenn du verstehst, was ich meine. Das merken die Leute. Einige glaubten sicher, sie hätten sie auch selbst machen können, was natürlich rührend ist. Trotzdem darf man dieses Gefühl nicht unterschätzen, wenn Menschen Kunst sehen. Tänzer sind ein anderes Beispiel. Es sieht so leicht aus, dass man glaubt, es selbst zu können, wenn man nur will.«
    Wie Barbara, die auf dem Seil ein Gefühl von Schwerelosigkeit vermittelte.
    »Eigentlich möchte ich dir einen Rat geben. Wie wäre es, eine kreative Pause von einigen Monaten einzulegen? Um Inspiration zu sammeln oder um nichts zu tun. Manchmal habe ich das Gefühl, dass du nie ausspannst. Du arbeitest vermutlich sogar dann, wenn du ein Glas Wein trinkst.«
    Die verdammte Izabella. Die ahnte, dass sie manchmal, wenn sie zum Prosten das Glas hob, daran dachte, welche Farbe der Wein hatte und welcher Film sie am besten wiedergeben würde. Die sicher der Frau zustimmen würde, die an einem sonnigen Strand in Asien ihre Schultern massiert und dabei gemurmelt hatte: Your mind is always active.
    Sie stand auf. Musste einfach mit Mårten sprechen. Ihn sagen hören, dass es nicht so ernst sei, wie es wirke. Dass es eigentlich keinen Grund zur Beunruhigung gebe, solange sie, er und Peter gesund seien. Dass sie, wenn alles zum Teufel ginge, doch die
Wohnung verkaufen und in ein Land übersiedeln könnten, wo die Apfelsinen billiger wären als hier. Sie würde ihm zustimmen und lachen. Und alles würde wieder seine richtigen Proportionen annehmen.
    »Dann lasse ich die Bilder bei dir. Du kannst dich ja melden und sagen, wie du dich entschieden hast. Danke, Izabella. Du weißt, wie froh ich bin, dass ich dich habe.«
    »Und ich bin ebenso froh darüber, dass ich mit dir arbeiten kann.« Izabella brachte sie zur Tür und umarmte sie. Und Inga bemerkte wieder das, was sie nicht hatte bemerken wollen. Izabella war magerer geworden.
    Sie ging durch die Tür der Galerie und hörte, wie Izabella sie hinter ihr schloss. Die Sonne stach ihr in die Augen. Sie hielt die Hand vor ihr Gesicht und dachte, dass müsse ein rebellischer Herbst sein, der sich Kälte und Dunkelheit einfach nicht ergeben wollte. Vielleicht hätte sie versuchen sollen, diesen Altweibersommer einzufangen, statt mit einem Zirkus umherzureisen, den sie offenbar nicht so hatte fotografieren können, dass die Bilder berührten. Es war ihr eindeutig nicht gelungen. Die Selbstkritik hämmerte mit ihrem Herzen im Takt. Sie ließ keinen Platz für den Gedanken, dass möglicherweise Izabella einen Tag hatte, an dem sie künstlerisch weniger empfänglich war, und dass Izabellas Meinung sich nicht notwendigerweise mit der anderer deckte.
    Sie suchte in ihrer Tasche nach ihrem Telefon und wählte Mårtens Nummer. Sie hörte das Klingeln, aber als nach einer Weile Mårtens Stimme erklang, war es die von seinem Anrufbeantworter.
    Das überraschte sie, normalerweise meldete er sich fast immer selbst. Enttäuscht blieb sie an einer Straßenkreuzung stehen und fragte sich, was sie jetzt machen sollte. Ihr Vorhaben, noch zu arbeiten, kam ihr sinnlos vor. Sie würde an diesem Tag
nichts mehr tun können, was nicht von Unsicherheit durchsetzt sein würde. Natürlich
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