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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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hatten. Als er ging, hatte sie sich hingesetzt und die Anrufe erledigt, die sie erledigen musste. Sie hatte das Krankenhaus angerufen, zur Bestätigung. Hatte Peter angerufen. Mårtens Eltern. Mama Louise. Noch einmal das Krankenhaus. Einige Verwandte. Mårten war an einem Herzinfarkt gestorben.
    Einige Stunden später, als eine Freundin spontan zu Besuch kam, war sie zusammengebrochen. Hatte geweint, geschrien und geheult, Tee getrunken und Zwieback gegessen. Hatte geschlafen und gewacht, geschlafen und gewacht und die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass ein kleines Wesen mit einer Machete durch ihr Inneres lief und sie in Fetzen schnitt. Am Ende
war nur noch eine matschige Masse unter der Haut übrig, eine Masse, die sich weigerte zu verstehen.
    Die Fahrt zum Krankenhaus in einer Stadt, die sie noch nie besucht hatte, schweigsame Kilometer, zusammen mit Peter. Die Begegnung mit Mårtens Eltern. Mårten, weiß und kalt im Bett. Friedlich, fast mit einem Lächeln auf den Lippen und den Händen auf dem Bauch. Besticktes Bettzeug, brennende Kerzen, Bibel und Gesangbuch auf dem Nachttisch. Blumen auf der Bettdecke. Professionell fürsorgliches Personal. Fast wie bei Papa. Damals hatte sie dabei sein können. Hatte Abschied nehmen und seine Hand halten können, ehe Papa verschwunden war. Mårten war ohne Abschied gegangen.
    Sie hatte sich dem Bett genähert. Dann blieb sie auf halber Strecke stehen und dachte, sie hätte ihre Brieftasche verloren. Sie hatte ihre Tasche durchwühlt und sich auf dem Boden umgesehen, als könnte die Brieftasche von selbst heruntergehüpft sein. Erst als sie das Leder zwischen den Fingern spürte, hatte sie zum Bett gehen und sich auf einen Stuhl setzen können. Schon damals hatte sie sich über ihre Reaktion gewundert. Es spielte doch keine Rolle, wo ihre Brieftasche war.
    Die anderen stimmten einen Choral an, »Nur einen Tag, nur einen Augenblick getrennt«. Sie versuchte mitzusingen, aber es war ihr nicht gelungen. Dann hatte Mårtens Mutter Zuflucht beim Krankenhauspersonal gesucht und mit diesem geredet. Währenddessen suchte sie nach Mårtens Seele, ohne sie irgendwo zu finden, nicht bei ihm, nicht bei ihr selbst, nicht im freien Flug durch den Raum. Als die anderen schon gehen wollten, wollte sie eigentlich noch bleiben. Doch als die anderen daraufhin anboten, sie später abzuholen, konnte sie es nicht über sich bringen, weiter hier zu sitzen. Sie hatte Angst vor der Trauer und davor, was sie mit ihr machen würde, sobald sie allein war. Seltsamerweise hatte sie außerdem Angst davor, der weiße
Mårten könne sich im Bett aufsetzen und ein Gespräch mit ihr beginnen. Ihr vielleicht die Blumen geben.
    Mårten. Haare in der Farbe dänischer Butter und großzügig in seinem ganzen Wesen. Unbekümmert, was Runzeln und die Ansichten anderer anging. Das hier kann ich anbieten und alles gehört dir.
    Sie fror noch immer, zwang sich aber, aufzustehen, und ging zum Sofa, wo sie eine Decke an sich zog. Die Übelkeit kam unerwartet und signalisierte ihr, dass sie wieder vergessen hatte, Nahrung nachzufüllen. Essen. Mit Mårten hatte sie die Mahlzeiten genossen und gern für besondere Genüsse gesorgt. Sie hatte sich nicht nur mit ihrer Arbeit Mühe gegeben, sondern auch mit ihrer Ehe. Die Fürsorge für Mårten war ebenso selbstverständlich gewesen wie die Wartung ihrer Kameras. Jetzt blieben ihr nur die Kameras.
    Nein, das stimmte nicht ganz. Vergiss nicht, dass du Peter hast. Das hatten irgendwelche Freunde zu ihr gesagt. Andere hatten auch gesagt, sie sei doch glücklich gewesen, anders als viele andere. Und sie sei noch jung. Sie werde einen anderen kennenlernen. Worte. Aber natürlich. Sie hatte Peter. Vermutlich wäre sie ohne ihn nicht dort, wo sie heute war. Den wunderbaren, mitfühlenden, unversehens starken und viel zu erwachsenen Peter. Zwanzig Jahre alt, als es geschehen war. Zweiundzwanzig jetzt. Medizinstudent in Umeå. »Ich möchte mich nützlich machen.« Der ihr immer wieder sagte, dass er zurechtkomme. »Hauptsache ist, dass du zurechtkommst. Mama.«
    Zwei Jahre her. Zwei Jahre, in denen sie es nach und nach geschafft hatte, aus dem Bett aufzustehen, durch das Zimmer zu gehen, durch die Tür, hinaus ins Leben, aber mit tieferen Furchen um den Mund. Verblühte Schönheit? Was spielte das für eine Rolle? Eine gute Ehe für mehr als zwanzig Jahre. Was hatte sie gedacht, als sie sie führte? Dass man den anderen gut behandeln
müsse, um selbst gut behandelt zu werden. Und
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