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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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dass er jemals daran denkt. Mit neunzig sind einem sicher andere Dinge wichtig. Meine Kusinen und Vettern und ich sollten uns überlegen, was geschehen soll. Aber noch nicht jetzt. Jetzt will ich einfach nur eine Weile hier sein.«
    Einfach nur sein. Was immer das bedeuten mochte.
    »Soll ich Teewasser aufsetzen?« Niklas erhob sich.
    »Ja, bitte. Und in der Tüte auf der Anrichte sind Himbeerkrapfen. «
    Nach einigen Minuten kam er mit zwei Tassen zurück, auf denen die Krapfen balancierten.
    »Du bist genauso verrückt nach Himbeeren wie deine Oma. Mein Vater hat erzählt, dass sie Himbeeren geliebt hat.«
    »Das habe ich auch gehört. Dass dein Vater das wusste.«
    Himbeererinnerungen. Wie sie sie auf Grashalme aufzog. Sie im Joghurt zerquetschte. Oder wie Mårten sie mit einem unerwarteten Liter überraschte.
    Mårten.
    »Darf ich fragen, wie es dir geht, oder willst du nicht darüber sprechen?« Niklas’ Stimme klang sachlich. Inga wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und band daraus einen Knoten. Wollte sie reden? Es kam darauf an, wer fragte. Ob ihr Gegenüber zuhörte und gute Ratschläge vorbrachte oder einfach nur alles schrecklich fand. Ober ob sie es selbst schaffte, Dinge in Worte zu kleiden, die sich nicht beschreiben ließen.
    »Ich dachte, unsere Ehe würde alles überleben. Ich war einfach davon ausgegangen, dass Mårten und ich zusammen alt werden würden. Ich habe auf irgendeine seltsame Weise das alles für selbstverständlich gehalten. Jetzt ist Mårten tot, und ich kann nichts tun, um ihn zurückzuholen. Ich kann auf den
Friedhof gehen und eine Blume in die Erde stecken und hoffen, dass er es hört, wenn ich mit ihm rede. Aber ich kann nicht sicher sein.«
    Abgesehen von dem Tag, als plötzlicher Regen und ebenso plötzliche Wärme jede Blume in der Umgebung aufspringen ließen. Rote Blütenblätter, Wassertropfen wie verlorene Perlen auf den Blättern, der Duft des Grüns. Mårtens Stimme von überall und nirgends her, in ihr.
    Du musst mich loslassen und weiterleben, Inga.
    »Ich habe versucht, mein Leben zu leben, ohne es zu ändern. Ich blieb in unserer Wohnung wohnen. Bewahrte einen Teil von Mårtens Kleidern auf. Ab und zu machte ich die Tür auf und stecke die Nase in eines seiner Hemden, aber meistens ließ ich den Schrank zu. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich traf mich mit unseren alten Freunden. Arbeitete. Mehr denn je. Nahm jeden Auftrag an. Reiste, machte Fotos für Ausstellungen, Bücher … egal wofür. Alle waren rührend um mich bemüht. Ich wurde hochgelobt und geschätzt. Nicht zuletzt, weil ich soviel ›Haltung bewahrte‹. Alle fanden, ich sei gut in Form. Vielleicht, weil ich so oft unterwegs war. Es war mir unmöglich, still zu Hause zu sitzen. Dann kamen die Gedanken, und wenn sie kamen, streifte ich die Trainingskleidung über. Und lief und lief stundenlang.«
    Sie verstummte. Das Feuer brannte ruhig und stetig. Das Holz knisterte ab und zu und roch leicht nach Rauch.
    »Außerdem hat ein Kollege mir sehr viel geholfen. Beruflich und privat. Er war … er war da, und wir hatten auch früher schon zusammengearbeitet. Außerdem war er mit Mårten befreundet gewesen. Wir haben eine ziemlich beachtete Ausstellung zum Thema Lebensfreude eröffnet. Klingt vielleicht ein wenig seltsam, wenn du bedenkst, was bei mir passiert war. Aber ich dachte, das könnte mir helfen. Meine Kollege macht
alles sehr ordentlich, und jetzt hatte er Adler fotografiert. Frag mich nicht, wie er es geschafft hatte, ihnen so nahezukommen. Er wollte zeigen, wie Adler fliegen lernen. Wie die Eltern die Jungen aus dem Nest stoßen, wie die Jungen dann in Panik geraten, wie die Alten hinter den Kindern herfliegen und die Flügel öffnen und sie auffangen und zurück in den Horst holen, nur, um sie ein weiteres Mal aus dem Nest zu stoßen, bis die Kleinen lernen müssen …«
    Ihre Stimme wurde brüchig.
    »Die Bilder waren so schön. Ich habe an diesem Nachmittag etwas empfunden, das Ähnlichkeit mit Ruhe hatte. Bei der Vernissage wimmelte es nur so von Menschen, die erzählen wollten, wie beeindruckt sie waren. Ich hatte einige von Mårtens Gebäuden fotografiert, denn ich wollte … aber ich hatte auch andere Bilder. Dann kam eine Frau, die ich flüchtig kenne. Wir hatten vor vielen Jahren miteinander zu tun, aber sie hat mich immer ein wenig verunsichert. Zeitungsfotografin und im Nebenberuf Schauspielerin. Jedenfalls stand sie einfach da. Schaute mich und meinen Kollegen vielsagend an und
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