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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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sagte ziemlich laut: ›Das ist Ihnen ja wirklich schnell gelungen, Mårten zu vergessen.‹«
    Sie brach in Zittern aus, wie immer, wenn sie an diesen Moment dachte. An diesen unerwarteten Angriff. Diese Worte, die in ihrer Absicht zu verletzen so höllisch genau getroffen hatten.
    Niklas schaute sie überrascht an.
    »Das hat sie gesagt?«
    »Ja. Genau das hat sie gesagt. Ich weiß, ich hätte mir das nicht zu Herzen nehmen dürfen, sondern es als das nehmen müssen, was es war. Neid vielleicht. Einen Ausdruck für ihre eigene Unzufriedenheit, der rein gar nichts mit mir zu tun hatte. Vielleicht hätte sie mir sogar leidtun sollen. Ich will glauben, dass sie nicht begriff, wie sehr sie mich getroffen hatte. Aber ich
hatte nicht die Kraft dazu. Es war so, als ob sie ein Messer in eine Wunde gebohrt hätte, die danach noch schlimmer eiterte. Es ist schwer zu erklären, dass ein so dummer Kommentar eine solche Wirkung haben kann, ich verstehe es nicht einmal selbst, aber so war es. Ich stellte mein Glas auf einen Tisch, öffnete die Tür und ging hinaus. Versuchte, meinen Wagen zu finden, hatte aber vergessen, wo er stand. Ich irrte umher und muss restlos verwirrt ausgesehen haben. Dann wurde ich angefahren. Es war nicht weiter schlimm, aber trotzdem. Ich kam mit einigen Schrammen im Krankenhaus zu mir und wurde mit einem Rezept für ein Antidepressivum entlassen. Es war so, als ob ich für immer den festen Boden unter den Füßen verloren hätte. Vielleicht für immer.«
     
    Niklas sah sie an, und sofort bereute sie, das alles gesagt zu haben. Ihr würden an diesem Abend unmöglich irgendwelche Erklärungen gelingen. Sie würde es einfach nicht schaffen, von der schrecklichen Trauer, Angst und Wut der vergangenen Jahre zu erzählen, die jetzt an die Oberfläche geströmt waren, obwohl sie versucht hatte, alle Gefühle zu unterdrücken. Für einen kurzen Moment vor dem Kamin hatte sie ihre Angst betäuben können. Sie wollte sich ausruhen. Nicht an Mårten im Krankenhausbett oder ihre Erinnerungen aus dem Alltag denken, etwa wenn Peter, Mårten und sie am Küchentisch gesessen, gefrühstückt und Zeitung gelesen hatten. Oder wenn sie zusammen den Christbaum geschmückt hatten. Die hölzernen Weihnachtswichtel. Zwei Stück, Wichtelmutter und Wichtelvater.
    »Hast du nur ein blödes Rezept bekommen?«
    »Können wir ein andermal darüber sprechen? Ich bin jetzt müde. Danke, dass du gekommen bist, aber ich glaube, ich muss jetzt ins Bett.«

    Niklas umarmte sie flüchtig, dann stand er auf. Sein Körper fühlte sich warm an, während ihrer bereits erstarrt war.
    »Ich arbeite morgen zu Hause. Komm doch einfach zum Essen zu uns. Oder an einem anderen Tag. Und ruf an, wenn etwas ist. Man weiß nicht, ob die Gespenster von der Festung auf die Idee kommen, hier vorbeizuschauen, jetzt, wo das Haus endlich bewohnt wird.« Er unterbrach sich selbst. »Entschuldige. Hier passiert nichts, weißt du. Aber es wird abends dunkel, also zögere nicht. Wir haben auch ein Gästezimmer. Es kann doch vorkommen, dass das Wasser hier streikt.«
    Sie musste ihn einfach anlächeln. Es war wohlgemeint und zugleich so unrealistisch. Dass sie anrufen und darum bitten könnte, bei Niklas und seiner Freundin übernachten zu dürfen.
    »Wer von uns hat sich denn früher am meisten vor der Dunkelheit gefürchtet? Du etwa nicht? Du bist doch hysterisch geworden, wenn wir im Keller eingeschlossen waren.«
     
    Niklas schüttelte den Kopf auf eine Weise, die sie kannte.
    »Spielst du übrigens noch immer?«
    »Nicht mehr so oft. Eine Zeit lang hatte ich fast Angst, mich fortzuspielen. Jetzt aber…«
    »Du hast immer gesagt, die Geige sei wie ein Teil deines Körpers. Eine Verlängerung deines Armes. Dass du dich deshalb nie weiter als zehn Meter von ihr entfernen könntest.«
    Niklas gab keine Antwort, sondern ging auf die Tür zu. Dort drehte er sich um.
    »Ich habe mein Handy auf dem Nachttisch liegen lassen. Danke für den Kuchen.«
    Die Tür fiel ins Schloss. Er war verschwunden.
    Die Stille und Einsamkeit waren brutal. Die Geräusche der Nacht, eben noch beruhigender Hintergrund, wirkten jetzt wie
eine Machtdemonstration. Der Wind drang durch die Risse in der Wand, der Kühlschrank brummte leise vor sich hin. Der Holzboden knarrte unter ihren Füßen. In der Küche sah sie in einer Ecke einige dunkle Reiskörner, was auf ungebetene Gäste hinwies.
    In einem Frühling vor vielen Jahren war Mårten einmal hierhergefahren. Er hatte die Küche
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