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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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ein wenig vage Gestalt, in deren Anwesenheit Kinder zum Schweigen gebracht wurden, wenn sie unschuldig fragten, warum Onkel Niklas denn keine eigene Familie habe.
    »Anita ist in Göteborg und trifft sich mit irgendwelchen Freunden. Sie wird dort übernachten.«
    Niklas kehrte ihr den Rücken zu, als er das sagte, und sie bohrte nicht weiter. Derzeit war es also eine Anita, die mit Niklas in dem großen schönen Haus in der Bucht auf dem Festland lebte. Und Niklas wollte Essen machen.
    Das alles gab ihr genügend Kraft, um mit dem alten Staubsauger des Hauses eine kurze Runde zu drehen und im Schlafzimmer
den ärgsten Staub zu wischen. Den Wischlappen hatte Niklas mit derselben Selbstverständlichkeit mitgebracht wie Putzmittel und eine Flasche Wein. Sie fand die Bettwäsche im Schrank und nahm die, an die sie sich aus ihrer Kindheit am besten erinnern konnte. Blühende Rosen auf der einen Seite, Knospen auf der anderen. Die Farben waren verschossen, aber die Baumwolle war von einer mittlerweile seltenen Qualität. Bettbezug und Kopfkissenbezug waren mit Spitzen besetzt, und in die Mitte war ein R gestickt. Alles duftete nach Lavendel und überraschend sauber.
    Sie bezog das Bett, hängte einige Blusen auf und fand im Kleiderschrank die alte braune Strickjacke ihres Vaters. Sie hatte sie immer geliebt, da sie wusste, dass er für ihr gemütliches abendliches Beisammensein bereit war, wenn er sie anzog. Sie hatte vergessen, dass die Jacke hier hing, aber nun schlüpfte sie hinein und krempelte die viel zu langen Ärmel hoch. Dann wusch sie sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser.
    Niklas hatte inzwischen im Holzofen Feuer gemacht, und als sie zu ihm in die Küche kam, rührte er gerade in einer Soße. Sie sah aus, als ob sie gut schmecken werde. Sie dachte, dass Gott durchaus gütig sein könne, wenn es ihm gerade passte. Was hatte der Pastor noch gesagt, als sie ihn gefragt hatte, warum ein allmächtiger Gott Mårten nicht hätte am Leben lassen können. Etwas darüber, dass der Glaube an Gottes Allmächtigkeit auf einer Fehlübersetzung beruhe. »Gott ist nicht allmächtig«, hatte er gesagt. »Sondern gewaltig.« Das war der einzige Grund, aus dem sie sich einen Rest Glauben bewahrt hatte.
    Sie trugen die Teller ins Wohnzimmer, und weil der Kamin so viel Wärme ausstrahlte, setzten sie sich auf den Boden. Sie erzählte von einigen Ausstellungen und war überrascht darüber, dass Niklas im Laufe der Jahre ihre Arbeit im Auge behalten hatte. Sie selbst musste beschämt zugeben, nicht gewusst zu
haben, dass Niklas für einen seiner Stühle einen Designerpreis erhalten hatte. Aber er versicherte, das mit den Möbeln sei nur eine Nebenbeschäftigung. Die Baufirma verschlinge fast alle Zeit, und er habe mehr Aufträge, als er eigentlich bewältigen könne. Anita war eine Kundin gewesen. Inzwischen hatte sie ihre Wohnung verkauft und war zu ihm gezogen. Sie war Gymnasiallehrerin für Biologie und Chemie.
    Erst als die Teller fast leer waren, brach Niklas das Schweigen, das sich immer einstellte, wenn eine Frage nach Mårten nicht beantwortet wurde.
    »Du hast also vor, eine Weile hier zu wohnen.«
    Das war eine Behauptung. Sie versuchte, sich zu erinnern, was sie bei ihrem Anruf gesagt hatte. Ja, sie wollte an die Westküste kommen und im Haus auf Marstrand wohnen. Sie würde einige Wochen dort bleiben, vielleicht länger. Sie brauchte Ruhe für die Arbeit und musste sich aus mehreren Gründen erholen. Peter war noch in Umeå. Und nein, sie brauche sich zeitlich nach niemandem sonst zu richten.
    Sie zog an einem Faden im Jackenärmel, und ihr fiel keine passende Antwort ein, als Niklas bereits weiterredete.
    »Es hat schon länger niemand von euch im Haus gewohnt. Im vorigen Sommer waren nur einige von Ivars Enkelkindern eine Weile hier. Und dann kam Solveig und hat versucht, den Garten in Ordnung zu bringen. Aber das Haus ist leider arg mitgenommen. Überall. Das Meer zehrt an den Außenwänden, und im Herbst hatten wir ziemlich heftige Stürme.«
    »Wir haben wohl allesamt nicht richtig Verantwortung übernommen. Ich war nicht mehr hier, seit Mårten gestorben ist. Als wir vor einigen Jahren auf der Durchreise waren, habe ich hier übernachtet. Ich hätte mehr tun müssen, das weiß ich.«
    Niklas stieß ein Holzscheit an. Sofort loderte das Feuer auf, und neue Flammen züngelten in der Luft.

    »Wem gehört das Haus denn eigentlich?«
    »Ich bin zusammen mit Onkel Ivar die Hauptverantwortliche. Aber ich glaube nicht,
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