Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
Vom Netzwerk:
Schwester in den lärmenden Besuchsraum.
    Schließlich saß sie vor dieser schlechten Kopie des Alten der Tage, der ihr seine miesen roten Schuhe anbot, und ausgerechnet in diesem Moment brach der lang vergrabene Kummer in Form von Tränen aus ihr hervor. Der Rabbi betrachtete sie mit hündchenhafter Zuneigung und einer Spur von Mitleid.
    »Blödmann.« Lou war wütend über seine Aufdringlichkeit. »Sie kennen mich doch überhaupt nicht.«
    Er zog die borstigen Brauen hoch. »Kenne ich dein Intimtattoo und den Geschmack von deiner Zunge, woß du hast verbrannt einmal in einem glesl Schokolade im Dixie Café.« Er beugte sich so weit über den Tisch, dass ein Wärter sie mit einem Wink seines Schlagstocks aufforderte, den vorgeschriebenen Abstand einzuhalten. »Kenne ich die Reise von deiner Seele aus einem Guppy und doß Raumspray, mit woß du versteckst den Geruch von der lustigen Zigarette.« Wieder lehnte er sich vor. Sein Atem stank nach dem Schweinebauch, den er zu Mittag gegessen hatte und von dem noch Krümel in seinem Bart hingen. »Weiß ich, wie du es machst zurecht, doß Schamhaar.«
    Wie gebannt neigte Lou den Kopf, unfähig sich loszureißen von dem verwitterten Gesicht und den durchsichtigen Augen des Alten, die strahlten wie geschmolzener Mondschein. Unwillkürlich streckte sie die Hand über den Tisch, um ihm auf die zerfurchte Stirn zu klopfen. Als er bejahend nickte, fuhr sie ungläubig zurück. »Sie stinken nach trejfe.« Angestrengt durchsuchte sie ihr Gehirn nach mehr beleidigender Munition, um der Faszination zu widerstehen, die ihr Herz bestürmte. Sie schüttelte den Kopf, um sich von diesem Unsinn zu befreien. »Warum haben Sie ihn abgemurkst?«
    Nachdenklich streckte er die blasenartige Unterlippe vor. »Vielleicht hob ich ihn gemurkst rein. Seiner neschome hob ich gegeben die Freiheit, zu kommen in a neues … woß is doß Wort… a Gefäß.«
    Gefäß? Sie zögerte. »Was war an seinem alten nicht in Ordnung?«
    »War es zwischn zwaj weltn - Diesseits und Jenseits. Also ich hob ihn freigelassen.«
    »Was für ein Quatsch«, fauchte Lou. »Ich hab die Schnauze voll von diesem ganzen Voodoo-Schwachsinn. Das kommt bei Ihnen genauso falsch rüber wie bei ihm.« Irgendwie war sie sich auf einmal nicht mehr ganz sicher, wen sie mit »ihm« meinte. »Es gibt nur diese eine Welt, und die ist schon halb im Eimer.«
    »War er zu sehr in ihr, in der Welt«, erklärte der Rabbi.
    »Er war nicht genug in ihr«, widersprach Lou.
    Der Alte stieß einen Seufzer aus, der klang wie ein flügelschlagendes Ächzen. »Doß auch.« Er zwinkerte mit einem tränenden Auge. »Doß auch.«
    Wut brandete in Lou auf, und sie sah sich plötzlich in einem dieser Films noirs aus dem Videoladen, in dem Madeleine Carroll als die Braut des Mordopfers eine Waffe aus der Handtasche zieht, um es dem Killer heimzuzahlen. Aber in Lous Handtasche waren nur etwas Make-up, ein paar Schokoriegel für Sue Lily und ein Exemplar von Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten . Außerdem hatte sie nicht das Bedürfnis, jemandem Schaden zuzufügen. Im Gegenteil, als ihr Zorn verpufft war, merkte sie, dass sie sich merkwürdig entspannt fühlte in der Gesellschaft des Mörders, obwohl sie es unverzeihlich fand, sich dieser Ruhe einfach so hinzugeben. Doch der Lärm im Raum zerrte nicht mehr an ihren Nerven; fast als wäre sie allein mit ihm in einem Wohnzimmer oder auf dem Rücksitz des Malibus ihrer Mama.
    Plötzlich entstand an einem der anderen Tische Unruhe. Der Verwaltungsbeamte war von seinem erhobenen Platz herangestürzt, um zwei Wärter zu unterstützen, die einen stehenden Gefangenen und seine Besucherin aufhielten. Die beiden beteuerten ihre Unschuld - der Häftling wurde laut, seine Begleiterin fummelte an ihrem hochtoupierten Haar herum und warf mit giftigen Flüchen um sich -, während ein Wärter behauptete, dass die Fotos in dem Album, das sie angeschaut hatten, an der Rückseite mit gepressten Folien aus Crystal Meth beklebt waren. Als der Beamte das Album beschlagnahmen wollte, riss der Gefangene - der sehnige Armmuskeln und Tränentattoos in einem Augenwinkel hatte - ein Bild heraus und stopfte es sich in den Mund. Damit war ihm der Zorn der Wärter sicher. In einem Tumult, der die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog, wurden Stimmen erhoben, Schlagstöcke eingesetzt und Reizchemikalien versprüht.
    Auch Lou hatte sich dem Getümmel zugewandt, doch dann merkte sie, dass der Rabbi den Tisch zwischen ihnen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher