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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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mehrere schallende Ohrfeigen zu verpassen, weil er ihr eine Jodelversion von »Mama Tried« vorsingen wollte. An einem anderen Tisch machte ein Insasse eine Polaroidaufnahme von einem stark sedierten und an einen Sicherheitsstuhl gefesselten Gefangenen, neben dem eine altersschwache Dame mit einer Sauerstoffleitung in der Nase in einem Rollstuhl saß. Kinder, die über das Geländer ihres Spielbereichs kletterten, mussten von patrouillierenden Beamten in Blau zurück in ihren Pferch geworfen werden.
    Auch Sue Lily, die sonst so apathisch war, fing plötzlich an, auf Lou Ellas Schoß herumzuzappeln. »Jingl.« Ein derartiger Ausbruch war bei ihr geradezu unerhört, und sie wurde so ungebärdig, dass Lou die Kleine zu den anderen in den Laufstall setzen musste; dort hielt sie sich stehend am Geländer fest, ein Haarband über einem unverwandt starrenden Auge, und gab merkwürdige Laute von sich, die ihre Schwester zusammenfahren ließen. Als Lou Ella sich wieder dem Rabbi zuwandte, sah sie sich durch sein albernes Grinsen in der Einsicht bestätigt, dass sie mit der Fahrt hierher einen schweren Fehler gemacht hatte.
    Immerhin war Bernie Karp nun schon seit zwei Jahren tot, und ihr Leben war weitergegangen. Nach dem Ende der Highschool vor einem Jahr hatte man ihr Studienstipendien angeboten, und Berater hatten sie gewarnt, dass es eine Schande sei, einen Verstand wie den ihren zu vergeuden. Trotzdem hatte sich Lou dafür entschieden, zu Hause zu bleiben und zu arbeiten. Seit der Diagnose einer abgeschwächten Art von Autismus musste ihre Schwester eine Sonderschule besuchen. Und das konnte sich ihre Mama kaum leisten, weil sie bei FedEx zum wiederholten Mal bei der Berufung zur Verwaltungskraft übergangen worden war. So arbeitete Lou ganztags im Videoladen, dessen selten anwesender Besitzer das Sortiment nicht auf DVDs umgestellt hatte. Das bedeutete, dass die ohnehin schon spärliche Kundschaft auf eine Handvoll Unverbesserlicher geschrumpft war. So hatte Lou viel Zeit für die Lektüre von Carlos Castaneda, Eckhart Tolle und Emanuel Swedenborg. Allerdings hatte sie in letzter Zeit nicht viel gelesen. Sie schaute sich lieber tränenfördernde Romanzen mit Ida Lupino oder Loretta Young aus der Erwachsenenabteilung des Ladens an, wenngleich auch diese Filme sie im Grunde kaltließen.
    Nach dem Prozess hatte sie gedacht, jetzt kommt die Trauer , aber sie blieb aus. Natürlich hatte sie Schuldgefühle, weil sie keine Trauer empfand, und sie vermisste ihn auch; sie vermisste ihn, fragte sich jedoch nach einer Weile nach dem Grund. Schließlich war Bernie Karp ein eher ätherischer Mensch gewesen, der bestimmt nicht mit beiden Beinen auf der Erde gestanden hatte. War ihre gemeinsame Zeit denn etwas anderes gewesen als eine Serie von Enttäuschungen, die mit einer großen Enttäuschung endete? Sicher, sie hatten bestimme Interessen miteinander geteilt, aber darüber war Lou inzwischen hinweg; sie hatte verstanden, was Leben bedeutete: an einen sterbenden Planeten gefesselt zu sein, dem man nur durch verbotene Vergnügungen entrinnen konnte. Wann fängt die Tragik an? Das hatte sie sich gefragt, doch statt eines Sturms von Leid, der den Gletscher in ihrer Brust hätte zum Bersten bringen können, spürte sie nur eine anhaltende Mattigkeit. Nichts war ihr mehr wichtig. Rastlos in ihrer Einsamkeit suchte sie die Gesellschaft von unappetitlichen Codeinfressern und Aspirinfreaks, bei denen sie sich den Ruf erwarb, dass sie leicht rumzukriegen war. Sie sah ihr Verhalten zwar als Verrat an ihrem heimgegangenen Freund, aber sie stellte fest, dass Reue die Sünde sogar versüßte. War sie so wütend auf Bernie, dass sie sein Andenken entweihen wollte? Nun. Ja, verdammt, so war es. Doch der Zorn war nicht ihr einziger Beweggrund, und nach einer Weile bot ihr auch das schlechte Benehmen keine Befriedigung mehr.
    Eines Abends schob sie alle Bedenken von sich und besuchte Bernies Eltern, obwohl sie bei der Verhandlung mehr als deutlich hatten durchblicken lassen, dass Lou Ella in ihren Augen für Dinge stand, an die sie lieber nicht erinnert werden wollten. Aber inzwischen war einige Zeit vergangen, und Mr. Karp hatte den Verlust durch den Fall des Hauses der Erleuchtung wieder wettgemacht; er hatte sich ein zusätzliches Kinn und eine künstliche Sonnenbräune zugelegt, die er bei seinen Fernsehwerbungen vorteilhaft in Szene setzte. Seine Frau trug einen orangefarbenen Trainingsanzug und prahlte mit ihrer Anmeldung zu einem
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