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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi
Autoren: Steve Stern
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wie früher, alter Mann«, brachte er mit einem bärenhaften Schluchzen hervor. Der Rabbi steckte eine leberfleckige Hand durchs Gitter und stieß sie an die klobigen, um den Mopp geklammerten Finger des Schwarzen. »Gibst du mir einen High-Five, Kumpel.« Nachdem er seinem Gegenüber ein gequältes Lachen abgerungen hatte, fuhr er in seiner Erklärung fort: »Wer eintritt hier, muss er lassen fahren alle Hoffnung. Aber wer is so verletzt, dass er hat keine Hoffnung mehr, bekommt er a geheime Medizin. Scha!« Er legte einen knochigen Finger an die Lippen. »Wenn sie erfahren doß, die Hoffer, sie fühlen sich betrogen.«
    Zurück in seiner Abteilung, grübelte Cholly über Möglichkeiten nach, sich in den dritten Stock von Block C versetzen zu lassen. Er wusste, dass es eine Weile dauern konnte; er musste weiter herumtigern, abwarten, die Augen offen halten, dann konnte er es schaffen. Aber er wusste auch etwas anderes: Im Bau konnte man zwar schnell alt werden und tausend Tode sterben, aber die Zeit stand still. Sie war sozusagen auf Eis gelegt.
     
    Als sie auf einem Plastikstuhl dem Mörder gegenübersaß, der in jeder Hand einen roten Schuh hielt, hatte Lou Ella Mühe, die Fassung zu bewahren. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas Hässliches gesehen, eine Travestie von Dorothys Schuhen aus Der Zauberer von Oz . Die ungleichmäßig angenähten Pailletten an den Absätzen sahen aus wie die Schuppen radioaktiver Fische, und zwischen der Ober- und Untersohle hingen klumpige Klebertropfen. Sie war zwar wirklich hart im Nehmen, doch die Nachtfahrt in einem überfüllten Bus durch den ganzen Staat (mit Sue Lily, die kein Leichtgewicht war), das Filzen bis auf die Haut und auch der trostlose graue Gefängnisbau hatten ihr ziemlich zugesetzt. Als sie dann den alten Knacker in seiner lächerlichen Knastkluft aus Mütze und viel zu großer Drillichhose vor sich hatte, konnte sie einfach nicht mehr, und die Tränen stiegen ihr in die Augen.
    Der Rabbi vollführte mit den Schuhen ein Tänzchen auf dem klapprigen Tisch. »Woß weinst du?«, erkundigte er sich mit kehliger Stimme. »Farwoß meint jeder, woß sieht mich, er muss schprizn Tränen?« Seine Frage schien sich an die Neonlampen zu richten.
    Sie schnäuzte sich in das Lätzchen ihrer unhandlichen kleinen Schwester, die auf ihrem Knie wippte. »Dreimal dürfen Sie raten.« Sie legte die dem Anlass entsprechende Feindseligkeit in ihre Stimme.
    »Für deinen toten Geliebten du weinst?« Der Rabbi klang fast hoffnungsfroh. Trotz der aschfarbenen Haut, der tränenden Augen und des schwefeligen Bartgestrüpps schien ihn die Haft nicht besonders mitgenommen zu haben, und in seinen feuchten Augen funkelte sogar eine Art wirres Mitgefühl.
    Lou Ella senkte den Blick und erstarrte. Dann kicherte sie, bis ihr die Nase lief und sie sich erneut schnäuzen musste. »Er war nicht mein Geliebter. Ich war nur in ihn verknallt.« Die Heftigkeit ihres Ausbruchs erschreckte sie, aber noch erstaunlicher war, dass der alte Knabe richtiggehend beleidigt wirkte.
    Vorsichtig schob er die geschmacklosen Latschen in ihre Richtung. »Hob ich sie gemacht dir.« Erklärend fügte er hinzu, dass er im Gefängnis ein neues Hobby gefunden habe.
    Kurz streifte sie der Impuls, sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihm nichts mitgebracht hatte, doch entsetzt verscheuchte sie den Gedanken gleich wieder. Dann kam sie ohne Umschweife zur Sache: »Warum haben Sie ihn umgelegt?« Es gab keinen Grund, die Frage, deretwegen sie den weiten Weg auf sich genommen hatte, noch weiter hinauszuzögern. Obwohl sie sie im Kopf tausendmal geübt hatte, klang sie jetzt ein wenig unangemessen.
    Aber was hatte sie an diesem gottverlassenen Ort zu suchen, wenn nicht eine Antwort auf die Frage, die den Rabbi (der immer noch schwieg) sichtlich in Verlegenheit gebracht hatte? Sie schien darauf zu warten, dass der Alte es ihr sagte, was doch völlig unlogisch war; denn es lief darauf hinaus, dass sie die Reise gemacht hatte, um herauszufinden, warum sie sie gemacht hatte. Lou fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes Magentahaar.
    Die schrillen Stimmen in dem drückend heißen Besuchsraum lenkten sie so ab, dass sie kaum mehr denken konnte. Das Zimmer selbst mit seinen Verkaufsautomaten und Schildern, die vor jedem Körperkontakt warnten, ließ nicht die geringste Nähe zu. Am Nachbartisch lehnte sich eine beleibte Frau in einem blumengemusterten Muumuu in der Größe eines Heuhaufens vor, um ihrem Sohn, dem Häftling,
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