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Der Gast des Kalifen

Titel: Der Gast des Kalifen
Autoren: Stephen Lawhead
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Onkels. Er war aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, wo er seit der Großen Pilgerfahrt gelebt hatte. Er war der älteste der beiden Brüder meines Vaters, und zusammen mit dem anderen Bruder, Sku-li, hatte er sich Balduin von Bouillon angeschlossen, und als Gegenleistung für ihre treuen Dienste hatte dieser ihnen Land in Edes-sa gegeben.
    Wenn man ihn nach seinen Brüdern gefragt hatte, hatte Murdo stets geantwortet, sie seien auf der Jagd nach Reichtum im Heiligen Land gestorben. Zeit meines Lebens hatte ich nie an dieser Aussage gezweifelt. Warum auch? Nie hatten wir auch nur ein Wort von ihnen gehört - kein Brief und noch nicht einmal ein knapper Gruß aus dem Mund eines zurückkehrenden Pilgers -, obwohl sie im Laufe der Jahre mit Sicherheit genug Gelegenheit dazu gehabt hätten.
    Das war auch der Grund, warum Murdo in diesem Augenblick sagte, Torf-Einar sei von den Toten zurückgekehrt. In gewissem Sinne stimmte das sogar, denn niemand hatte damit gerechnet, Torf-Einar jemals wiederzusehen - weder in dieser noch in der nächsten Welt.
    Doch jetzt war er hier. Zwar schien er in meinen Augen nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen, aber er war lebendig, allerdings von recht aufbrausendem Naturell. Von seinem großen Reichtum war jedoch noch nicht einmal das Blinken eines Silberlöffels zu sehen. Der Mann, den ich auf der groben Trage sah, hatte mehr mit einem von Wunden übersäten Bettler gemein, wie sie in den Schatten der Klostermauern von Kirkjuvagr herumlungern, denn mit einem Herrn von Outremer. Selbst der niederste Schweinehirt eines solchen Herrn hätte einen beeindruckenderen Anblick geboten als mein Onkel; das schwöre ich.
    Auf jeden Fall banden wir ihn los und erfuhren dabei auch den Grund, warum er auf einer Planke ans Ufer getragen worden war: Seine Beine waren nur noch eine einzige Masse aus eiternden Wunden. Er konnte nicht gehen. Mehr noch, er konnte sich sogar kaum aufsetzen. Dennoch hatte er etwas dagegen, festgebunden zu sein, und er hörte nicht auf, um sich zu schlagen, bis wir die Fesseln gelöst und fortgeschafft hatten.
    »Nach all diesen Jahren... Warum bist du ausgerechnet jetzt zurückgekehrt?«, fragte Murdo und setzte sich auf die Fersen.
    »Ich bin nach Hause gekommen, um zu sterben«, antwortete Torf Einar. »Glaubst du etwa, ich würde es ertragen, in diesem gottverlassenen Land verscharrt zu werden?«
    »Das Heilige Land gottverlassen?«, wunderte sich Emlyn und schüttelte verwirrt den Kopf.
    Torfs schrumpeliges Gesicht zog sich wie eine Faust zusammen, und er spie: »Heiliges Land! Pah! Ein Schweinestall ist erbaulicher als dieser verfluchte Ort und eine Schlangengrube freundlicher.«
    »Was ist mit deinen Ländereien?«, erkundigte sich Murdo. »Was mit deinem unermesslichen Reichtum?«
    »Scheiß auf die Ländereien!«, knurrte Torf-Einar. »Und scheiß auch auf den Reichtum! Sollen ihn sich die Heiden holen. Doppelgesichtige Dämonenbrut - jeder Einzelne von ihnen. Die Pest auf die schwarzen Völker. Sollen sie doch zum Teufel gehen!«
    Er erregte sich derart, dass er wieder begann, um sich zu schlagen. Rasch sagte Murdo: »Ruhig jetzt, Torf. Du bist bei deiner Sippe. Niemand wird dir hier ein Leid antun.«
    Wir trugen ihn zum Dun und taten unser Bestes, um es dem alten Mann so bequem wie möglich zu machen. Ich nenne ihn einen >alten Mann<, weil er mir damals so erschien. In Wahrheit war er nur wenige Jahre älter als mein Vater. Die Verwüstungen eines Lebens in ständigem Kampf und, wie ich glaube, der Hurerei hatten ihm jedoch das Fleisch von den Knochen gezogen. Seine Haut, schwarz gebrannt von der unerbittlichen Sarazenensonne, war so brüchig wie altes Leder; sein ausgebleichtes Haar bestand nur noch aus wenigen Büscheln, und seine Gliedmaßen waren so von Wunden übersät, dass sie wie knorrige Baumstümpfe wirkten. Alles in allem sah der einst ansehnliche Herr wie ein abgenagter Beinknochen aus, den man auf den Misthaufen geworfen hatte.
    Wir brachten ihn ins Haus und legten ihn in die Halle. Murdo ließ eine Pritsche herbeischaffen und neben den Herd in eine Ecke stellen; dann baute man davor einen Wandschirm auf, um Torfein wenig Ruhe vor dem ständigen Kommen und Gehen in der Halle zu verschaffen, doch auch um andere vor dem entsetzlichen Anblick zu bewahren - dessen bin ich sicher.
    Die Frauen eilten umher und gaben dem Bruder ihres Herrn etwas zu essen und auch bessere Kleider - Letzteres war allerdings nicht schwer, denn selbst eine zerfledderte
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