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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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der eigenen Existenz wurde, wie die Räder eines Zuges oder der Hufschlag eines Pferdes; nach einer Weile hörte man sie nicht mehr.
    Wenn das Rätsel gelöst war, hinterließ es einen Krater, um den herum er sich vorsichtig bewegte, nachdem ihm nun die Möglichkeit fehlte, sich von seiner Einsamkeit abzulenken. Früher hatte er sich ans Fenster geflüchtet, um einem täglichen Wunder beizuwohnen: zuzusehen, wie Enrica mit der linken Hand stickte oder das Abendessen vorbereitete; dort konnte er von einem anderen Lebenträumen, sich ein anderes Ich ausmalen, eines, das vielleicht vom Fenster aus grüßen oder ein Schwätzchen halten würde.
    Die Petrone war ihre Tochter abholen gekommen, die wieder in ihre Schwachsinnigkeit verfallen war: Ein Lächeln zeichnete sich unter ihrem ausdruckslosen Blick ab und der übliche Speichelfaden hing aus dem halboffenen Mund. Sie klammerte sich an ihre Mutter und schlurfte mit den Füßen über die Straße. Er hatte das Mädchen beneidet, das sich seiner Verwünschung nicht bewusst war. Für sie bewohnten Lebende und Tote gemeinsam eine sehr wundersame Welt.
    Die Lösung. Für den Mann, der zuschaut, gibt es keine Lösung.
    Ganz anders im Fall der Kartenlegerin: Die Lösung war ihm eingefallen, als die Petrone erzählte, was die Calise, gefragt nach dem Verwendungszweck des Geldes, geantwortet hatte: »Du und ich«, hatte sie der Pförtnerin gesagt, die ihrerseits für die Zukunft der Tochter vorsorgte, »Du und ich, wir sind im Grunde gar nicht so verschieden.« Auch sie hatte also ein Kind. Es war eine Botschaft für Ricciardi gewesen, übermittelt durch den Mund ihrer Geschäftspartnerin.
    Während er aus seinem Bürofenster hinaussah und versuchte, nicht an die Berge noch auszufüllender Formulare zu denken, wanderten seine Grübeleien zu seiner Mutter. Zu dem Traum, in dem er sie gesehen hatte, zu ihrer Krankheit, ihren unheilbaren Nerven. Was war das für eine Krankheit, Mama? Was hast du draußen, in den Feldern, auf der Straße gesehen? Warum lebtest du in ein Zimmer eingeschlossen, ans Bett gefesselt? Was war in deinemBlut, Mama? Was hast du mir noch vererbt außer meinen grünen Augen?
    Ricciardi schauderte in der frischen Luft, einer freundlichen Zuwendung des Frühlings.
    Blut von meinem Blut, dachte er.

    Maione fühlte sich leicht. Was für einen Koloss wie ihn, der über hundert Kilo wog, nicht wenig war. Man hatte ihm einen halben Tag frei gegeben, wie jedes Mal, wenn eine Ermittlung erfolgreich abgeschlossen wurde, und diesmal hatte er so eine Ahnung, dass der freie Nachmittag großartig sein würde.
    Nach dem Abschluss eines Falles war seine Seele stets von einer Last befreit. Er konnte die Dinge dann wieder unbeschwert angehen, denn es war kein Verbrechen mehr wiedergutzumachen, nichts Schiefes wieder geradezubiegen. Seine Hände, sein Herz und sein Kopf waren immer noch erfüllt von der Frühlingsnacht, die Lucia ihm beschert hatte, lächelnd und ohne ein Wort zu sagen. Sie hatte recht, dachte er, wie immer. Es war die Zeit der Zärtlichkeiten.
    Jetzt allerdings hatte er Lust zu reden. Als er zu der ungewohnten Stunde nach Hause kam, umarmte er Frau und Kinder und kleidete sich in Zivil: In seinem Fall waren das ein altes Hemd aus grober Baumwolle, zwei abgetragene Hosenträger, die ein Paar Leinenhosen hielten, und zwei ausgeleierte Treter, von denen er sich um keinen Preis trennen würde. Erst spielte er mit den Kindern, die durch die neue Stimmung im Haus fröhlich und aufgedreht waren, schlief dann ein wenig und setzte sich schließlich in die Küche zu seiner wundervollen Frau, der schönstenFrau des Universums, die Bohnen schälte und Makkaroni zerbrach.
    Sie lächelte ohne aufzusehen und schob ihm ein kleines Häufchen Schoten zu: »Mach auch mal was«, sagte sie. Auch er lächelte und begann, mit dem Daumen Bohnen zu enthülsen, die er dann in eine Schüssel fallen ließ.
    Lucia hielt ein, sah ihn an und sagte: »Erzähl.«
    Und er erzählte.

    Ricciardi war gerade mit dem Ausfüllen des Berges von Formularen fertig geworden, die das Ende der Ermittlungen markierten. Er legte die Feder nieder, schloss das Tintenfässchen. Es war vollends Abend geworden. Das Licht der Lampe erhellte einen leeren Schreibtisch. Das Werk ist vollendet, dachte er. Es ist Zeit.
    Er blickte sich ein letztes Mal um, lauschte der Stille hinter seiner Tür. Er war der Letzte. Es war Zeit zu gehen.
    Er trat hinaus, schloss die Tür hinter sich und ging zur Treppe. » Nie mehr
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