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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, ohne aufzuhören, aus dem Fenster seines Büros zu schauen.
    »Danke, dass du mir eine weitere Lektion erspart hast. Vom Schicksal hatten wir heute Abend schon genug, meinst du nicht? Glaub mir, wenn ich dir das sage: Es gibt kein Schicksal. Es gibt Männer und Frauen und den Mut zu leben oder sich das Leben zu nehmen, wie Iodice. Und es gibt Leute, die nicht bewusst leben, sich treiben lassen. Das ist das Einzige, was es gibt.«
    Maione schüttelte den Kopf.
    »Wie schade, Sie so reden zu hören, Commissario. Nicht mal die Auflösung eines Falles und ein durchgedrehter Schurke in der geschlossenen Anstalt können Ihnen ein Lächeln entlocken.«
    Ricciardi drehte sich nicht um.
    »Weißt du, was du jemandem, der sein Leben lang bloß aus dem Fenster schaut, als Einziges wegnehmen kannst? Weißt du was?«
    »Nein. Was denn?«
    Ricciardi seufzte kurz.
    «Das Fenster, Raffaele. Du kannst ihm das Fenster wegnehmen.«

    Garzo war überaus erleichtert angesichts der Haltung des Professors und seiner Gattin. Die beiden wirkten müde und mitgenommen. Einer so gewaltsamen Szene beizuwohnen, dachte er, war wahrscheinlich doch schrecklicher gewesen, als man es sich vorstellte. Aber die Bilder würden schon bald vergessen sein.
    In Wahrheit wollte Garzo sichergehen, dass der einflussreiche Akademiker nicht beabsichtigte, sich bei den Stellen, mit denen er zu tun hatte, über die Polizei zu beschweren; in diesem Fall hätte er sich von Ricciardis Vorgehensweise distanziert, als deren Urheber er sich ansonsten ausgeben und das Lob dafür einheimsen wollte.
    Serra di Arpaja seinerseits wollte bloß schnell fort und anfangen zu vergessen. Seine Frau war angesichts des Gewaltausbruchs des Schauspielers in der Loge zurückgewichen und mit ihm zusammengestoßen, als er seinerseits nach vorne kam, um sie zu beschützen. Sie hatte sich an ihn gelehnt und ihm die Hand gedrückt. Es war nicht viel,nur ein Anfang. Sie hatte das Taschentuch genommen, das er aus seiner Tasche zog, um ihr die Tränen zu trocknen.
    Es war dieselbe Tasche, in der sich auch die Pistole befand. Er war zu allem bereit gewesen: Wenn Emma sich dafür entschieden hätte, mit Romor wegzugehen, hätte er sich vor ihren Augen erschossen. Dann hätte man ja gesehen, ob sie fähig gewesen wären, auf seinem Tod ein neues Leben aufzubauen. Es war das Äußerste, was er einkalkuliert hatte, nachdem alle anderen Versuche fehlgeschlagen waren. Er erinnerte sich an seinen Besuch bei der Calise, die er davon überzeugen wollte, Emma von ihrer Obsession zu befreien. Erinnerte sich an die offenstehende Tür, all das Blut auf dem Boden, daran, wie er Hals über Kopf geflohen war in der Hoffnung, dass niemand ihn hereinkommen gesehen hatte; dann die Gewissheit, dass nun alles zu Ende sei, es keine Hoffnung mehr gebe.
    Doch stattdessen würden er und Emma ein Kind bekommen; vielleicht würde sie zum Wohl des Ungeborenen die Sicherheit, die nur er ihr geben konnte, neu zu schätzen lernen.
    Emma war in Gedanken weit weg. Sie dachte an die Zeit, als sie noch glaubte, ohne Attilio nicht leben zu können, einen Mann, der sich als Wahnsinniger entpuppt hatte. Sie zweifelte an sich selbst und ihrer Urteilsfähigkeit. Die Calise und ihr Sohn hatten sie mit ihrer Tragödie gelehrt, inwiefern Mutterschaft auch verheerende Schäden anrichten konnte.
    Sanft berührte sie ihren Bauch, während sich dieser Trottel von einem Beamten, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte, mit ihrem Mann über irgendwelche gemeinsamen Bekannten ausließ. Und wenn ihr Kind nundie schlechten Seiten seines Vaters geerbt hatte? Hatte die Großmutter sich aus Liebe oder aus Egoismus so verhalten?
    Eine plötzliche Erkenntnis durchfuhr sie. Emma wurde auf einmal klar, dass das Blut der Alten, das so grausam vergossen worden war, auch das Blut des Kindes war, das sie in ihrem Schoß trug. In gewisser Weise war es Blut von ihrem Blut.
    Vielleicht, überlegte sie, waren ihre unbeantworteten Fragen die Strafe, die sie nun erdulden musste. Eine lebenslange Buße.
LXIV
    Die Lösung eines Falles hinterließ bei Ricciardi stets ein Gefühl der Leere. Über Tage hinweg hatten das Verbrechen, die Wege zu dessen Aufklärung, der Ruf der Toten nach Vergeltung ihn voll und ganz in Anspruch genommen. Ohne es zu merken, dachte er fortwährend an die Ermittlungen, sogar wenn er aß oder schlief, sich wusch oder zur Toilette ging; die Gedanken begleiteten ihn wie ein Geräusch, das zur Grundlage
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