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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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sich durch die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Attilio abzulenken: die Freude auf die Erwiderung ihrer Liebe, seine Zärtlichkeit und Leidenschaft, die für sie lebensnotwendig geworden waren.
    Den Wagen hatte sie schon vorbereiten lassen, doch die Koffer noch nicht; selbst ein paar Stunden vor der Begegnung wusste sie noch nicht, was sie tun würde. Sie hatte nie irgendetwas entschieden, und nun musste sie die wichtigste Entscheidung allein und ganz ohne Hilfe treffen.
    Ein neues Gefühl, vielleicht eine Art Mutterinstinkt, beherrschte sie und brachte sie durcheinander. All der Egoismus, der die Antriebskraft ihres Lebens, ihrer Beziehung zu Attilio gewesen war und der sie gegenüber derWelt, in der sie sich bewegte, so unduldsam gemacht hatte, hatte sich in Nichts aufgelöst. Sie würde ein Kind haben. Es schien ihr, als ob ihr ganzes Dasein auf dieses Ziel ausgerichtet wäre. Sie erlebte alles vollkommen anders als zuvor und fühlte sich meilenweit entfernt von ihren Freundinnen, die sich darauf beschränkt hatten, ihre Kinder zu gebären, um sie gleich darauf – fast wie ein notwendiges Übel – an Scharen von Ammen und Hauslehrerinnen zu übergeben.
    Für Ruggero, aus dessen verwirrtem Blick sie echten Schmerz herausgelesen hatte, empfand sie einen Anflug von Mitleid; doch sie war mittlerweile überzeugt davon, dass ER die Calise ermordet hatte, und musste sich zum Wohl des Kindes von ihm und seinem unseligen Schicksal trennen.
    Sie würde ihr Herz sprechen lassen, dachte sie. Sie würde sich entscheiden, wenn sie Attilio auf die Bühne kommen sah – in seinem majestätischen Gang, der ihr so vertraut war. Im Theater.
    Zur letzten Vorstellung.

    Ricciardi und Antonietta saßen im Zuschauerraum auf zwei Randplätzen nahe der Bühne. Der Kommissar wollte, dass das Mädchen sowohl Romor als auch die Serras gut sehen konnte. Er hoffte, dass Ruggero sich in die Nähe seiner Frau setzen würde, die wie immer die der Bühne am nächsten gelegene Loge im ersten Rang reserviert hatte.
    Er wusste nicht recht, was er erwartete: vielleicht einen falschen Schritt, eine verkehrte Reaktion. Er hatte den Schuldigen ausgemacht, ein Irrtum war ausgeschlossen,doch was er in der Hand hatte, waren bloß Hinweise und keinerlei Beweis.
    Jetzt konnte er nur auf einen Fehler des Mörders hoffen oder darauf, dass der einzig mögliche Zeuge, Antonietta, ihn wiedererkannte. Allerdings wusste er, dass eine Aussage des Mädchens aufgrund seiner Geistesschwäche vor Gericht nicht verwendbar sein würde. Vielleicht führte sie aber dazu, dass der Mörder die Nerven verlor. Das war schon vorgekommen.
    Ricciardi zog den Kopf zwischen die Schultern und versuchte, im Halbdunkel des Zuschauerraums zu verschwinden. Beim Hereinkommen hatte er Camarda, Cesarano und Ardisio, drei Leute aus Maiones Truppe, erkannt, alle in zivil und an verschiedenen Stellen des Raums postiert. Maione selbst hatte unterhalb der Bühne in der zweiten Reihe Platz genommen. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen und verbarg sich, so gut es ging, hinter dem hochgeschlagenen Mantelkragen. Ricciardi sah genau in dem Moment zur Loge, als Emma sie betrat. Sie war schöner denn je, doch ihre Augen verrieten Unsicherheit, Schmerz und Müdigkeit. Sie war allein.
    Einige Minuten später bemerkte der Kommissar eine verschwommene Silhouette, die hinter ihr im Schatten stand. Der Professor, dachte er. Maione gab Camarda ein stummes Zeichen, dieser nickte und verließ den Saal. Ricciardi begriff gleich, dass der Brigadiere den Polizisten dazu aufgefordert hatte, die Tür zur Loge zu bewachen, um sofort eingreifen zu können, falls die Ereignisse sich überstürzen sollten. Auf Maione war Verlass, wie immer, ein wirklich tüchtiger Kerl!
    Die Lichter erloschen langsam und es gab Applaus. DieSchauspieler waren bereit, sowohl die hinter dem Vorhang als auch die im Publikum.
    Bereit für die letzte Vorstellung.

    Das Stück begann mit einem Monolog des Hauptdarstellers. Ricciardi erkannte in ihm den Mann wieder, der seinen Bruder am Vorabend so schroff angefahren hatte. Obwohl seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet war, nahm Ricciardi die Anziehungskraft wahr, die von dem Schauspieler ausging und das Publikum unverzüglich in seinen Bann zog. Antonietta blickte starr geradeaus, wobei sie weiter sinnloses Zeug vor sich hin nuschelte. Das Bühnenlicht erhellte den Zuschauerraum und ermöglichte es Ricciardi, sowohl Emma als auch Ruggero zu sehen. Die Frau klammerte sich an
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