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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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die Brüstung, ihre Hände waren weiß, ihr Gesichtsausdruck verwirrt, sie schien auf etwas zu warten; ihr Mann schien eine Maske zu tragen, sein Gesicht war so ausdruckslos wie das einer Schaufensterpuppe.
    Nach dem Monolog war die Hauptdarstellerin aufgetreten, eine außergewöhnlich hässliche, doch sehr talentierte Frau. Ricciardi nahm an, dass es sich um die Schwester des Leiters der Truppe handeln musste, da sie ihm deutlich glich, und dachte zerstreut, dass man sicher Einiges sparen konnte in einem familiengeführten Ensemble. Das Publikum kam auf seine Kosten, das Duo war brillant, der Rhythmus genau richtig, die Dialoge scharf und bissig; alle lachten außer den beiden Serras, den Polizisten und Antonietta, die wer weiß welchen Bildern nachhing.
    Dann, als der Dialog der beiden zu Ende war, trat Romor in Erscheinung. Der Protagonist empfing ihn miteiner sarkastischen Bemerkung, die die Zuschauer mit schallendem Gelächter quittierten. Ricciardi erinnerte sich an das Gespräch mit dem Schauspieler, in dem dieser die Antipathie des Mannes ihm gegenüber erwähnt hatte, und stellte nun fest, dass es tatsächlich genau so war. Vor ihm tuschelten drei junge Frauen ohne Rücksicht auf ihre Begleiter aufgeregt miteinander und kicherten nervös; Attilio hatte ganz offenbar sein Gefolge. Nachdem wieder Stille eingekehrt war, tat er einen Schritt nach vorn und wollte gerade seinen Text aufsagen, als plötzlich etwas Unerwartetes geschah.

    Schon als er noch hinter den Kulissen auf seinen Auftritt wartete, war Attilio aufgefallen, dass die Loge im ersten Rang wieder besetzt war. Das war schon lange nicht mehr der Fall gewesen und er hatte sich ein wenig an Unsicherheit, Zweifel und Einsamkeit gewöhnt. Wie ein Opferlamm war er Abend für Abend gezwungen gewesen, den Spott seines Feindes zu ertragen, ohne darauf reagieren oder auf eine Revanche hoffen zu können.
    Aber heute, ausgerechnet am letzten Abend, war Emma zurückgekommen. Er hatte gesehen, dass sie allein war, ohne sich weiter hinter einer Freundin zu verstecken. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatte sich dafür entschieden, ihre Verabredung einzuhalten, zu ihm zu kommen und mit ihm gemeinsam ein neues Leben zu beginnen – furchtlos und unter Missachtung aller gesellschaftlichen Konventionen. Strahlend betrat er die Bühne. Sollte der eingebildete Geck ruhig ein letztes Mal auf seine Kosten kommen, das war ihm nun völlig gleichgültig.

    Als Attilio auf der Bildfläche erschien, lehnte Emma sich fast über die Brüstung hinaus, starrte auf die Bühne und erforschte dabei ihr Inneres. Sie suchte nach einem Zeichen der Leidenschaft, die sie noch vor einer Viertelstunde zu spüren gemeint hatte. Doch sie empfand nichts. Der Mann, den sie mehr als irgendjemand anderen geliebt hatte, erschien ihr plötzlich wie ein Unbekannter. Sie fühlte deutlich, dass er ihr nichts mehr bedeutete, und in Sekundenschnelle wurde ihr klar, dass ihre Beziehung keinerlei Zukunft haben würde. Sie fragte sich, ob es vielleicht das war, was die Calise beim letzten Mal in den Karten gesehen hatte; und gerade als sie an die alte Frau dachte, hörte sie ihre Stimme im Zuschauerraum. Hinter ihr machte Ruggero einen Schritt nach vorn und führte seine Hand zur Manteltasche.

    Zuallererst glaubte Ricciardi, eine Vision zu haben. Da er Emmas Reaktion und auch jede noch so kleine Bewegung Ruggeros auf keinen Fall verpassen wollte, hatte er nicht mehr auf die Bühne und den Zuschauerraum geachtet. Es herrschte Stille. Das Publikum wartete auf den nächsten Satz, die Schauspieler taten nach Romors Auftritt einen Augenblick lang verlegen. Da war mit einem Mal ganz deutlich eine Stimme zu hören, die er sofort als die Stimme des Geistes der Calise erkannte. Er drehte sich abrupt um und sein Blick fiel auf ein grauenvolles Bild.
    Antonietta war aufgestanden. Sie hatte eine gebückte Haltung eingenommen, wirkte dadurch kleiner; ihre Beine waren leicht gekrümmt, der Kopf in einem fast unnatürlichen Winkel geneigt; ihr linker Arm hing unbeweglich seitlich an ihrem Körper herab, mit der rechten Handdeutete sie eine vage Bewegung an, als ob sie jemanden oder etwas von sich wegschieben wollte. Ihr schwachsinniger Blick wirkte nun melancholisch, während sie anscheinend mit einer schrecklichen Erinnerung kämpfte.
    Der Kehle des Mädchens entfuhr ein heiseres Krächzen; und sogar Ricciardi, der die schlimmsten Gräuel gewohnt war, würde nie mehr die Worte vergessen, die den unförmigen Mund des
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