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Der Friseur und die Kanzlerin

Der Friseur und die Kanzlerin

Titel: Der Friseur und die Kanzlerin
Autoren: Eduardo Mendoza
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ein zusammengefaltetes Blatt. Ich entfaltete es: Es war einseitig mit unregelmäßigen Zeilen und zittriger Hand beschrieben. Ich holte meine Brille, setzte sie auf und las:

    Quesito,
    das ist ganz sicher die letzte Nachricht, die Du von mir bekommst, das heißt, eigenhändig geschrieben, denn höchstwahrscheinlich wird mein Name demnächst in den Massenmedien verunglimpft. Achte nicht darauf und am wenigsten auf das, was im Fernsehen gesagt wird. Du weißt ja, wie gern sie kritisieren und piesacken, besonders wenn jemand direkt vor ihnen steht, manchmal niederträchtig und rücksichtslos. Ich weiß auch nicht, wie sie das aushalten, aber man hat mir gesagt, in diesen Programmen findet viel Theater statt und die Teilnehmer werden bezahlt fürs Abkanzeln und Abgekanzeltwerden. Das Einzige, worum ich Dich bitte, ist, dass Du immer mit so viel Zuneigung an mich denkst, wie Du sie mir jetzt schenkst. Auch ich liebe Dich, als wärst Du meine eigene Tochter. Aber leide nicht meinetwegen. Ich habe nie vor Dir geheimgehalten, dass ich eine wilde Vergangenheit habe. Ich dachte, das liege hinter mir, aber über kurz oder lang präsentiert einem die Vergangenheit die Rechnung. Und dasselbe kann man von den Sportübertragungen sagen, voller Geschrei, Beleidigungen und Ungezogenheiten – und was für eine Sprache, meine Güte! Mit jeder Minute spüre ich, wie die Gefahr naht, bei jedem Geräusch, das ich höre, stockt mir das Herz. Hoffentlich habe ich noch Zeit, diesen Brief zu beenden und in den Briefkasten zu werfen. Wenn Du ihn bekommst, zeige ihn Deiner Mutter nicht. Auf Wiedersehen, Quesito. Du weißt nicht, wer Franco war, bei ihm gab es weder Freiheiten noch soziale Gerechtigkeit, aber wenigstens konnte man mit Freude fernsehen. Es liebt Dich
    Romulus der Schöne
    Aufmerksam las ich den Brief noch einmal, dann faltete ich ihn zusammen, steckte ihn wieder in den Umschlag und gab ihn Quesito zurück.
    «Das gibt einem tatsächlich zu denken», musste ich zugeben. «Wann hast du den Brief denn bekommen?»
    «Am Montag.»
    «Und wann hast du Romulus zum letzten Mal gesehen?»
    «Vor zwei Wochen.»
    «Als du ihn das letzte Mal gesehen hast, hat er da irgendetwas Ungewöhnliches, Bemerkenswertes oder Aufschlussreiches gesagt oder getan? Hat er einen besorgten, nervösen oder ungeduldigen Eindruck gemacht?»
    «Nichs von alledem. Natürlich bin ich in dieser schwierigen Phase der Präadoleszenz ausschließlich mit mir selbst beschäftigt.»
    «Wer hat den Brief sonst noch gelesen?»
    «Abgesehen von Ihnen und mir niemand. Romulus hat mich ausdrücklich gebeten, ihn meiner Mutter nicht zu zeigen, und das habe ich auch nicht getan. Soll ich ihn ihr zeigen? Ich mag nicht, wenn es zwischen ihr und mir Geheimnisse gibt. Wir verstehen uns sehr gut.»
    «Nein, im Moment ist es besser, das Geheimnis zu bewahren. Jetzt werde ich dich etwas Indiskretes fragen. Du musst mir ehrlich antworten. Welcher Art war die Beziehung zwischen deiner Mutter und Romulus dem Schönen?»
    «Was hat das mit dem Brief zu tun?» Sie errötete und kräuselte Lippen und Stirn zugleich.
    «Ich weiß es nicht, aber ich glaube, wir dürfen diesen Aspekt nicht außer Acht lassen. Was zwischen den beiden gewesen sein mag, geht mich nichts an, aber wenn ich dir helfen soll, muss ich alles nur Denkbare über die Umstände wissen. Und die Frage ist nicht nebensächlich: Romulus ist ein sehr attraktiver Mann, und deine Mutter ist ein Flittchen, sonst gäbe es dich nicht.»
    «Das ist vor vielen Jahren passiert», antwortete sie standhaft. «Jetzt ist meine Mutter schon sehr alt. Nicht so alt wie Sie, aber alt genug, um sich besonnen zu verhalten. Nein, meine Mutter und Romulus waren nur gute Freunde. Wenn da etwas mehr gewesen wäre, wäre es mir nicht entgangen. So naiv bin ich nicht. Romulus kam dann und wann zu uns, immer gegen Abend, aber er ist nie sehr lange geblieben. Schon vor dem Essen ging er wieder, da er immer noch mit seiner Frau zusammenwohnte.»
    «Und weiß die um die Freundschaft ihres Mannes mit euch?»
    Sie zuckte die Achseln. Dieses Detail war ihr nie wichtig gewesen, und sie langeweilte sich bei der Befragung. Sie schaute auf die Armbanduhr.
    «Ich muss gehen. Sie werden Romulus finden, nicht wahr? Sie dürfen ihn nicht sich selbst überlassen, Sie beide sind Freunde.»
    Ich dachte schnell nach und traf eine Entscheidung.
    «Früher», antwortete ich. «Jetzt nicht mehr. Zudem habe ich meine eigenen Probleme und will keine Scherereien. Und du
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