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Der Friseur und die Kanzlerin

Der Friseur und die Kanzlerin

Titel: Der Friseur und die Kanzlerin
Autoren: Eduardo Mendoza
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gegenüberliegenden Gehweg machte Señor Lin vor der Ladentür Tai-Chi-Übungen. Um mich ein wenig zu zerstreuen, imitierte ich seine Bewegungen, bis ich merkte, dass ich nackt war und einige Nachbarn auf den Balkon getreten waren, um das Schauspiel zu verfolgen. Also ging ich wieder hinein und wartete weiter. Wenn in diesem Moment eine Dame eingetreten wäre, um sich eine Wasserwelle machen oder die Haare toupieren zu lassen, oder gar ein Obdachloser zwecks Entlausung, nichts von dem wäre geschehen, was nachher geschah. Da jedoch niemand kam, begann ich die Langeweile zu bekämpfen, indem ich über das nachdachte, was mir Quesito gesagt und gezeigt hatte. Natürlich war an diesem Brief etwas Seltsames. Zwar stand seine Authentizität außer Zweifel: Allein dass er von Hand geschrieben worden war, verriet den klaren Wunsch, die Identität des Verfassers deutlich zu machen. Aber war es denn wirklich ein Abschied, oder enthielt er eine verschlüsselte Botschaft für jemanden, der sie zu deuten wusste? Und warum hatte er ihn gerade Quesito geschickt? Rechnete Romulus der Schöne damit, dass sie zu mir käme, um mich um Hilfe zu bitten, und verbarg der Brief unter seiner zärtlichen Oberfläche eine Botschaft für mich? Wenn die Gefahr so groß und drohend war, warum ging er dann nicht zur Polizei? In welches Schlamassel mochte er sich wieder hineingeritten haben? Ich rief mir das Gespräch in der Gaststätte nach unserer Zufallsbegegnung in Erinnerung, seine vertrauliche Mitteilung über einen scheinbar einfachen, einträglichen Coup, bei dem ich hätte mitwirken sollen. Hatte er etwa versucht, ihn durchzuziehen, und das Ganze war schiefgelaufen? Wäre es ebenfalls schiefgelaufen, wenn ich meine Mitwirkung nicht so kategorisch versagt hätte?
    Gegen sieben Uhr zog ich mich an, ging zur Telefonzelle und wählte die Nummer, die mir Quesito aufgeschrieben hatte. Auf der Stelle hörte ich ihre vergnügte Stimme.
    «Wusst ich’s doch, dass Sie anrufen würden!»
    «Du bist ja vielleicht eine Schlaubergerin.»
    «O nein. Romulus hat mir erzählt, dass Sie immer zuerst zu allem nein sagen und am Ende zur Vernunft kommen.»
    «Hat dir Romulus auch gesagt, welches sein offizieller Wohnsitz ist?»
    «Nicht direkt. Aber ich habe es einmal herausgefunden. Wozu wollen Sie das wissen?»
    «Gib mir die Adresse. Wenn ich einen Moment nichts zu tun und Lust habe, geh ich mir das Haus vielleicht anschauen. Früher einmal hatte ich einen gewissen Kontakt zu Romulus’ Frau. Ich glaube nicht, dass sie sich noch an mich erinnert, ich mich an sie aber schon, weil sie uns Würste und Kekse mitgebracht hat.»
    Ich notierte mir Straße und Hausnummer und sparte mir das Versprechen, sie über das Ergebnis meiner Nachforschungen auf dem Laufenden zu halten, denn die Münzen waren aufgebraucht, und die Verbindung wurde unterbrochen. Früher hatte ich immer einen Draht hineingesteckt und kostenlos bis zur Heiserkeit telefoniert, aber die Verweichlichung hatte mir Geist und Geschick einrosten lassen, und das letzte Mal, als ich es mit dem Draht versucht hatte, hätte ich mir beinahe ein Auge ausgestochen. Im Übrigen findet man problemlos Kleingeld, wenn man auf allen vieren dahinkriecht, wenigstens für ein kurzes Gespräch, und ich bin sehr lakonisch geworden.
    Die Stunde von Geschäftsschluss und Kassensturz war gekommen. Da mich die Gewinn- und Verlustrechnung des Tages nicht sehr lange aufhielt, schien noch die Sonne, als ich vor Romulus’ Haus zu stehen kam. Es war ein unscheinbares Gebäude, weder neu noch alt, an einem Punkt der Calle del Olvido, wo sich die Fahrbahn verbreiterte und in einen Platz mündete, der, kurz vor den Gemeindewahlen, der Reihe nach von sämtlichen Kandidaten feierlich eingeweiht worden war, nachdem sie ihn mit drei mickrigen Bäumchen, einer Bank und einem Blumenbeet begabt hatten, wo die Hunde um die Wette defäkierten und die Krabbelkinder sich mit weggeworfenen Spritzen stachen. Auf der anderen Seite dieses abgelegenen Plätzchens, diagonal zum Haus, in dem Romulus wohnte, befand sich eine offene Kneipe mit der anregenden Ankündigung:
    ZUM DICKEN RINDVIECH
    Schlaffen Schrittes schleppte ich mich zweimal um den Block, um das Gelände auszukundschaften, dann kehrte ich zum fraglichen Haus zurück und drückte auf den erstbesten Knopf der Gegensprechanlage. Da niemand antwortete, drückte ich auf einen zweiten. Beim vierten Versuch hörte man eine brüchige Stimme.
    «Ein Einschreibebrief für Romulus den
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