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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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nicht, daß ich nie wieder einen Menschen so vorbehaltlos lieben würde. Dieser Verlust schmerzt mich. Keine der späteren Trennungen, von Hinner, von den Männern nach ihm, auch nicht die von Henry, haben mich wirklich umgeworfen. Wahrscheinlich war mein Verhältnis zu ihnen von dem Wissen geprägt, sie eines Tages zu verlieren oder doch verlieren zu können. Diese Vernunft machte mich unabhängig und einsam. Ich bin gewitzt, abgebrüht, ich durchschaue alles. Mich wird nichts mehr überraschen. Alle Katastrophen, die ich noch zu überstehen habe, werden mein Leben nicht durcheinanderwürfeln. Ich bin darauf vorbereitet. Ich habe genügend von dem, was man Lebenserfahrung nennt. Ich vermeide es, enttäuscht zu werden. Ich wittere schnell, wo es mir passieren könnte. Ich wittere es selbst dort, wo es mir nicht passieren könnte. Und ich wittere es dort so lange, bis es mir auch dort passieren könnte. Ich bin auf alles eingerichtet, ich bin gegen alles gewappnet, mich wird nichts mehr verletzen. Ich bin unverletzlich geworden. Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos. Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzbaren Hülle werde ich krepieren an Sehnsucht nach Katharina.
    Ich will wieder mit Katharina befreundet sein. Ich möchte aus diesem dicken Fell meiner Ängste und meines Mißtrauens heraus. Ich will sie sehen. Ich will Katharina wiederhaben.
    Meine undurchlässige Haut ist meine feste Burg.
    Ich hoffe, immer genügend Geld zu verdienen, um mich nicht einschränken zu müssen. Meine Bedürfnisse sind bescheiden, doch ich will sie mir erfüllen können.
    Ich habe Angst, einen Menschen zu töten oder zum Krüppel zu machen. In der Klinik habe ich solche Befürchtungen nicht, dort ist alles reparabel. Ich fürchte mich davor, einen Menschen mit dem Auto zu überfahren. Ich sorge mich nicht um diesen Menschen, sondern um mich. Es wäre eine Erfahrung, die, wie ich befürchte, mein Leben eingreifend verändern würde. Ich will das nicht.
    Neuerdings beginne ich, mich vor meinen Fotos zu fürchten. Sie füllen alle Schränke und Schubladen in meiner Wohnung. Von überallher quellen mir Bäume, Landschaften, Gräser, Feldwege, totes, abgestorbenes Holz entgegen. Eine entseelte Natur, die ich erschuf und die mich nun zu überfluten droht. Ich überlegte bereits, die Schränke im Arbeitszimmer der Klinik damit zu füllen, doch ich befürchte, daß Karla sie entdeckt und mich ausfragt. Immer stärker spüre ich, daß ich die Landschaft mit meinen kleinen, lächerlichen Fotos verwunde. Es sind Ausschnitte, die nichts begriffen haben. Ihnen fehlt Horizont, ihnen fehlt das Verwelken, Vergehen und damit die Hoffnung. Trotzdem werde ich nicht aufhören, diese Bilder herzustellen. Ich fürchte mich davor, es aufzugeben. Es ersetzt mir viel, es hilft mir über meine Probleme hinweg. Ich werde weiter Kisten und Schränke mit den Fotos füllen. Und in zwanzig oder dreißig Jahren, wenn der Hausmeister meine Wohnungstür aufbricht, wird er ein Problem mehr haben. Soll er die Bilder verbrennen, ich benötige sie noch.
    Ein paar Tage nach Henrys Beerdigung kam Herr Krämer zu mir. Er brachte mir Henrys breitkrempigen Filzhut. Henry gab ihm den, bevor man ihn erschlug. Herr Krämer meinte, der Hut stehe mir mehr zu als ihm. Ich bedankte mich. Ich bat ihn nicht, sich hinzusetzen, und ich bot ihm auch nichts an. Nachdem er gegangen war, warf ich denFilzhut in den Müllschlucker. Ich wollte ihn nicht eine Sekunde bei mir behalten. Ich wußte nicht, wie lange ich die Kraft aufbrächte, ihn wegzuwerfen. Ich kann meine kleine Wohnung nicht auch noch mit alten Hüten anfüllen.
    Im Sommer fuhr ich wie in jedem Jahr an die See. Ich besuchte auch wieder Fred und Maria, und alles war so, wie es in den Jahren davor gewesen war.
    Ich hoffte, das schöne Mädchen zu sehen, das ich mit Henry im vergangenen Sommer getroffen hatte. Es war ein wirklich schönes Mädchen gewesen. Damals schenkte sie mir etwas zum Abschied. In diesem Jahr war sie nicht da, und Fred und Maria konnten sich nicht an sie erinnern. Ich bedauerte, das Mädchen nicht anzutreffen, aber irgendwo war es mir auch gleichgültig. Sie war Katharina überhaupt nicht ähnlich.
    Es geht mir gut. Heute rief Mutter an, und ich versprach, bald vorbeizukommen. Mir geht es glänzend, sagte ich ihr.
    Ich bin ausgeglichen. Ich bin einigermaßen beliebt. Ich habe wieder einen Freund. Ich kann mich zusammennehmen, es fällt mir
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