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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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entfernt stand ein kleiner Mann mit einer Boxernase, der angewidert auf die Straße starrte. Ohne sich anzusehen, sprachen sie laut miteinander. Die Frau sagte jammernd, was er doch für ein Dreckskerl sei, und er bot mit gleichgültiger Stimme an, ihr die Fresse zu polieren.
    Als wir vorbeigingen, wünschte Henry ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr, und der Mann sagte mit unbewegter Stimme: Ist gut, Kumpel, mach, daß du weiterkommst.
    Vor unserem Haus drehten wir uns nach ihnen um. Sie standen noch immer an der Straßenecke.
    Am Abend kamen Onkel Paul und Tante Gerda zu uns und später auch meine Schwester und Hinner. Es wurde viel getrunken, und Vater stritt sich mit dem Onkel, der immerzu über ihn lachte. Hinner wollte mit mir allein sprechen.
    Wir gingen in die Küche. Er schwieg, und ich fragte ihn, was er von mir wolle. Endlich fragte er, ob ich meine Schwester jetzt hassen würde. Ich verneinte es. Sie fühle sich gedemütigt, meinte er, und ich solle eine versöhnende Geste machen. Dann lachte er leise und sagte, schließlich hätte ich ihn ja mal geliebt, und auch meine Eltern wären mit ihm zufrieden gewesen. Eigentlich müßten doch alle es billigen, wenn er jetzt mit meiner Schwester zusammenlebe. Ich wollte ihm antworten, daß wir alle darüber begeistert seien, unterließ es aber. Dann sagte er, daß er sich nicht verändert habe, und wollte von mir wissen, ob ich das nicht auch fände. Als wir ins Zimmer gingen, sah mich meine Schwester so unterwürfig an, daß es mich schmerzte. Ich lächelte ihr zu, und sie wirkte erleichtert. Gegen elf Uhr verabschiedeten sich meine Schwester und Hinner. Sie wollten noch zu Freunden gehen.
    Mitternacht stießen wir mit Sekt an, und der Onkel küßte Mutter und mich. Tante Gerda verlangte, daß Henry sie küßte, was er, anfangs verlegen lächelnd, zu ihrer Zufriedenheit tat. Dann brannte Henry auf dem Balkon Feuerwerkskörper ab, die er aus Berlin mitgebracht hatte. Er hatte ein Vermögen dafür ausgegeben und zündete nun hingerissen einen nach dem anderen. Es war merkwürdig, mit welcher Freude er seine Knallkörper und Raketen losließ.
    Gegen eins brachte ich Mutter ins Bett. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen und schnarchte leise. Als ich sie weckte, meinte sie empört, daß sie überhaupt nicht geschlafen habe und hellwach sei. Sie ließ sich aber willig ins Schlafzimmer bringen. Danach ging auch ich ins Bett. Irgendwann kamHenry. Ich nahm es im Halbschlaf wahr. Er legte sich neben mich und begann mich zu streicheln. Ich sagte, daß ich müde sei und schon geschlafen hätte. Er knurrte etwas und ließ von mir ab.
    Am Neujahrsmorgen frühstückten wir spät. Dann fuhren wir nach Berlin. Auf der Autobahn versuchte Henry, mich mit seinem Auto zu jagen. Er überholte und ließ sich zurückfallen. Ich ging auf sein Spiel nicht ein.
    Im Briefkasten lagen Neujahrsglückwünsche und ein Brief von Charlotte Kramer. Sie lud mich ein, Silvester bei ihnen zu verbringen.
    Abends ging ich mit Henry essen. Ich wollte mit ihm über seine Frau sprechen. Es war ihm aber nicht recht, und ich ließ es sein. Es war sein Problem, und ich konnte ihm nicht helfen.
    Am nächsten Tag ging ich früh in die Klinik. Karla erzählte von ihrer Silvesterfeier, und ich tat, als ob ich ihr zuhörte. Um neun Uhr begann die Sprechstunde.

12
    Die nächsten Monate vergingen, und das war eigentlich schon alles, was passierte. Ich machte meine Arbeit, und daheim war ich zu müde, um noch etwas anderes zu tun, als zu lesen oder fernzusehen. Henry sah ich zwei-, dreimal in der Woche. Unser Verhältnis hatte sich sehr normalisiert. Es war erträglich, und langsam wuchs es in die Gewohnheit. Manchmal sah ich ihn über eine Woche nicht, ich wollte es so. Ich hoffte, unsere Beziehung könnte dadurch der Alltäglichkeit entgehen, aber ich glaubte selbst nicht daran.
    In die Nebenwohnung, in der Frau Rupprecht gewohnt hatte, war ein neuer Mieter eingezogen, ein Offizier der Armee. Ich sah ihn selten.
    Im Februar wurde ich vierzig. Mutter kam am Nachmittag zu Besuch. Sie saß den halben Tag auf der Bahn, nur um zwei Stunden mit mir zusammen zu sein. Sie schenkte mir eine Bluse, und wir gingen in ein Café. Sie erzählte, daß meine Schwester und Hinner sich im Sommer verloben würden, wenn bis dahin die Scheidung erfolgt sei. Eine Verlobung erschien mir lächerlich, aber auch das interessierte mich nicht. Vater ging es nicht gut, aber Vater ging es in den letzten Jahren nie gut. Mutter fragte, was mir
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