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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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Henry geschenkt habe. Als ich ihr sagte, daß er von meinem Geburtstag nichts wisse, wunderte sie sich. Sie war beruhigt, als ich ihr sagte, daß ich noch immer mit ihm zusammen sei. Dann wollte sie wissen, was sie nach Vaters Tod machen solle. Ich glaubte, sie wollte mir zu verstehen geben, daß sie gern zu mir ziehen würde, und ich war deshalb unschlüssig und wußte nichts zu sagen. Mutter schlug sich dann auf den Mund und meinte, es sei eine Sünde, darüber zu reden, Vater lebe ja schließlich noch.
    Am Abend brachte ich sie zum Bahnhof. Vom Bahnsteig aus sah ich zu, wie sie, eine traurige alte Frau, hinter der verschmutzten Scheibe saß und mit einem Lächeln um mein Vertrauen bat.
    Daheim versuchte ich mir bewußt zu machen, daß ich nun vierzig sei, aber es fiel mir nichts dazu ein. Es war belanglos, es veränderte sich nichts. Ich wünschte mir, daß etwas geschehe, daß irgend etwas mit mir passieren würde, aber ich konnte nicht sagen, was es sein sollte.
    Im März wurde die Sommerzeit eingeführt. Die Uhren wurden um eine Stunde vorgestellt, und vielleicht war das in diesen Monaten das Aufregendste, was in meinem Leben geschah.
    Es berührte mich nicht, aber immerhin, es war ein Eingriff in die Zeit, die Unterbrechung eines unbeirrbaren, regelmäßigen Ablaufs. In meinem Leben gibt es solch radikale Eingriffe nicht. Es verläuft mit der Stupidität eines Perpendikelschlags, mit der unveränderlichen Bewegung des Pendels eines Regulators, wie er in der Wohnung von Onkel Gerhard in G. hing. Eine Bewegung, die zu nichts führt, die keine Überraschungen, Abweichungen, Sommerzeiten, Unregelmäßigkeiten kennt und deren einzige Sensation der irgendwann eintretende Stillstand ist.
    Im Herbst würde man die Uhren wieder umstellen. Das gewaltige Ereignis wäre geglättet und meinem Leben angepaßt. Spätestens im Herbst nähme alles seinen gleichmäßigen Fortgang.
    An freien Tagen fuhr ich manchmal aus der Stadt raus. Ich wollte fotografieren, aber es fiel mir zunehmend schwerer, Objekte zu finden. Ich hatte das Gefühl, alles schon fotografiert zu haben. Vielleicht beunruhigten mich auch die mit meinen Fotos überfüllten Schränke. Es gab für meine Sammelwut stiller Landschaften daheim kaum noch einen Platz. Ich hätte mich dazu aufraffen müssen, die alten Fotos durchzusehen und den größten Teil von ihnen zu vernichten.Dafür fehlte mir die Kraft. So kam ich einige Male zurück, ohne eine einzige Aufnahme gemacht zu haben. Das war für mich eine persönliche Niederlage, die mich beunruhigte und verstörte, und dies um so mehr, als ich ihre Nichtigkeit sah.
    Gelegentlich besuchte ich Freunde, was ich aber hinterher meistens bereute. Entweder gab es wenig Gemeinsamkeiten, und die Gespräche schleppten sich gelangweilt dahin, oder ich befürchtete, in ein fremdes Schicksal verstrickt zu werden. Ich interessiere mich nicht mehr für die Probleme anderer. Ich habe eigene Probleme, die auch nicht zu lösen sind. Alle haben irgendwelche Probleme, die nicht zu lösen sind. Wozu soll man darüber reden. Ich weiß, es gibt tausend Argumente, daß man eben deswegen miteinander sprechen sollte. Aber mir hilft es nichts. Mich bedrückt es. Ich bin kein Mülleimer, in dem andere ihre unentwirrbar verzwickten Geschichten abladen können. Ich fühle mich dazu nicht stabil genug. Ich vermeide es, mit Anne, einer Kollegin, die von ihrem Mann regelmäßig vergewaltigt wird, länger als eine Stunde zusammenzusitzen. Ich vermeide es, mich mit ihr irgendwo anders zu treffen als in Gaststätten und Cafés, in aller Öffentlichkeit also. Sie ist dadurch gezwungen, ein Mindestmaß an Disziplin zu halten. Sie kann sich dort nicht gehenlassen und mich mit den Schäbigkeiten und dem verkrötzten Gefühlshaushalt ihres Mannes überschwemmen. Ich habe sie nie zu Hause besucht und werde es nie tun. (Außer mit dem Rettungswagen, falls diese Anhäufung von Banalitäten einmal explodieren und ich so unglücklich sein sollte, Bereitschaftsdienst zu haben.)
    Den Einladungen des Chefs, ihn und seine Frau zu besuchen, konnte ich bisher ausweichen. Ich fürchte, von ihm überrascht zu werden. Ich glaube nicht an die Selbstlosigkeit der Sympathie, mit der er mir nachstellt. Ich rieche förmlich den eingeschwärzten Hintergrund seiner Zuneigung:Ahnungslos würde ich an seiner Haustür klingeln, und nach einer Stunde in seinem Sessel wäre ich rettungslos in dem Untergrund einer weiteren argen Seele gefangen, in den Fallgruben seiner Probleme.
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