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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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Pfand unseres ungestörten, liebevollen Verhältnisses. Es gab keine Geheimnisse zwischen Mutter und Tochter. Mein Leben war noch immer ihr Leben, und eben das bestätigte ihr Henrys Besuch. Sie wieselte um ihn herum, brachte Kuchen und Gebäck und fragte fortwährend nach seinen Wünschen. Ich glaube, er gefiel ihr.
    Vater sprach mit Henry über dessen Arbeit. Da Henry ernst und nachdenklich antwortete, war Vater zufrieden. Ihn interessieren nur Politik und Betriebsprobleme, und er schätzt es nicht, wenn man leichtfertig und witzelnd darüber spricht. Er mißtraut unserer Generation, er hält sie nicht für verantwortungsbewußt. Er fürchtet, daß sie verspielen wird, was seiner Generation unaufgebbar scheint. Er ist von uns enttäuscht und sieht voll Unbehagen, wie wenig wir seinen Vorstellungen entsprechen. Mißmutig und belästigt nimmt er zur Kenntnis, was mit den neuen Generationen auf ihn zukommt.
    Als Mutter sich erkundigte, ob Henry verheiratet gewesen wäre, und Henry ihr antwortete, daß er verheiratet sei und zwei Kinder habe, hatten meine Eltern wieder zu schlucken. Er fügte hinzu, daß er von seiner Frau getrennt lebe, aber das half wenig. Die Armen wurden zu diesem Jahreswechsel arg gebeutelt.
    Abends spielten wir Bridge. Mutter war wie verwandelt. Ich wußte, sie wollte ihm gefallen. Sie fing bereits jetzt an, um diesen möglichen Schwiegersohn zu kämpfen. Siewollte ihre Töchter zufrieden sehen, zufrieden auf die ihr einzig denkbare Art.
    Später dann, im Bett – Mutter hatte mich gefragt, wo Henry schlafen solle, ihr wäre es lieber gewesen, er würde im Wohnzimmer übernachten, doch sie sagte nichts, als ich verwundert antwortete: bei mir natürlich –, später erzählte Henry, daß seine Frau ihm gedroht habe. Sie habe sich unbestimmt geäußert, er könne nicht sagen, was sie ihm eigentlich androhen wollte. Sie könne nicht mehr so weiterleben, und scheiden lassen wolle sie sich auch nicht. Es wäre eine vage, vieldeutige Drohung gewesen. Ich fragte ihn, ob er beunruhigt sei. Er erwiderte, daß er nicht darauf antworten könne. Er wisse überhaupt nichts. Er streichelte mich und sagte: Was mir angst macht, sind die Kinder.
    Wir lagen nebeneinander und schwiegen. Wir berührten uns sanft und rauchten dabei. Wir hingen unseren Gedanken nach, zufrieden und angefüllt mit ungewissen, beklemmenden Ängsten.
    Am Silvestertag half ich Mutter bei den Vorbereitungen. Henry ging mit Vater in den kleinen Garten hinter dem Haus. Wie er mir erzählte, hätten sie im Schuppen zusammen gedrechselt.
    Nach dem Mittagessen spazierten Henry und ich in die Stadt. Es war ein klarer, sonniger Nachmittag. In der Nacht war Schnee gefallen und lag nun zusammengetreten und schmutzig auf den Straßen. In den Hauseingängen standen Kinder und Jugendliche. Sie warfen Feuerwerkskörper hinter uns her und rannten dann schreiend ins Haus oder blieben stehen und warteten gelangweilt auf unsere Reaktion.
    Es war warm, und wir liefen mit offenem Mantel. Henry fragte, was ich von ihm erwarte. Ich verstand ihn nicht und sah ihn fragend an.
    Ich meine, sagte er, wie denkst du, daß es mit uns weitergeht.
    Ich sagte, daß ich nicht darüber nachdächte.
    Das ist gut, sagte er, ich will dich nicht enttäuschen, aber ich will auch nicht mehr enttäuscht werden.
    Ich erwiderte, das sei auch meine Meinung, und er sagte etwas rätselhaft: Hoffen wir es.
    In einer Kirche fand ein Vespergottesdienst statt. Wir setzten uns auf die letzte Bank und hörten zu. Es waren nur wenige alte Leute da. Der Priester sah immer wieder zu uns herüber. Ich hatte bald das Gefühl, daß wir ihn störten. Wir gehörten hier nicht her. Wir verließen die Kirche.
    Auf dem Heimweg kamen uns viele Pärchen entgegen. Die Frauen trugen lange Kleider unter ihren Pelzen, und viele hatten glitzernden Straß im Haar. Sie wünschten uns ein gutes neues Jahr, und wir nickten ihnen zu.
    Auf dem Bürgersteig vor dem Reisebüro stand ein ausgebranntes Auto, in dem Kinder spielten. Das Dach fehlte. Die Stützschrägen, gekrümmt und mit verkrustetem, narbigem Lack bedeckt, wiesen bedrohlich nach oben.
    An unserer Straßenecke stand eine junge Frau und heulte wimmernd. Die Tränen zogen bunte Spuren über das stark geschminkte Gesicht. Sie lehnte an der Hauswand und schlug immer wieder mit der Handtasche gegen ihre Stiefel. An den dicklichen Wangen klebten goldene Sternchen und rote Monde, zwischen denen nun die Tränen ihren Weg suchten. Einige Schritte von ihr
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