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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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Kinder, es ist Weihnachten.
    Beim Kaffee sprachen wir über Verwandte. Mutter erzählte hektisch und sprunghaft. Meine Schwester war gekränkt und schwieg. Und Hinner fühlte sich unbehaglich. Er schwitzte. Um sieben gingen die beiden. Als sie zusammen aufbrachen, bemerkte Vater endlich, was los war. Erwar fast grau im Gesicht, als er sie verabschiedete. Er tat mir leid. Er konnte das nicht verstehen oder billigen. Früher hätte er mit der Faust auf den Tisch geschlagen oder angefangen zu schreien. So etwas tut er schon lange nicht mehr. Er frißt jetzt alles in sich hinein. Er setzte sich stumm ins Wohnzimmer vor den Fernsehapparat und war unansprechbar. Die Haut über seinen Fingerknöcheln war weiß.
    Wir gingen früh zu Bett. Ich hörte, wie Mutter im Schlafzimmer auf meinen Vater einredete, er möge etwas dazu sagen. Da sie ihn immer wieder darum bat, nahm ich an, daß er auch ihr gegenüber schwieg.
    Ich versuchte, mir über mein jetziges Verhältnis zu Hinner klarzuwerden. Ich entdeckte nichts, was mich mit ihm verband. Tatsächlich dachte ich wochen- und monatelang nicht an ihn. Wir hatten nichts miteinander zu tun. Und ich verstand nicht, warum mich seine Beziehung zu meiner Schwester störte. Warum war mir etwas widerlich, was mich nicht berührte, nicht mehr berührte. Wieso fühlte ich mich gedemütigt. Unzufrieden mit mir schlief ich schließlich ein.
    Der zweite Feiertag fand in aller Stille statt. Wir verbrachten ihn irgendwie. In gedämpfter Atmosphäre.
    Am Nachmittag kamen Tante Gerda und Onkel Paul zu uns. Die beiden Männer redeten über Politik, und Mutter nötigte mich, über meine Arbeit in Berlin zu erzählen.
    Am Abend rief Hannes an, der Rostocker Ingenieur, der Ehemann meiner Schwester. Mutter war an den Apparat gegangen. Sie fragte nach ihrem Enkel. Sie machte mir Zeichen, daß ich ans Telefon kommen und mit ihm sprechen sollte, aber ich schüttelte den Kopf. Ich ging mit Tante Gerda aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter uns. Ich wollte es Mutter erleichtern, ihn anzulügen. Ich wußte, daß es ihr unangenehm war, ihm vor mir irgend etwas über meine Schwester vorzulügen.
    Später bestellte Mutter uns Grüße von Hannes. Ich sah zu Vater hinüber. Er blickte nicht auf. Ich wußte, in ihm brodelte es. Wäre er gläubig, er würde meine Schwester gewiß mit einem alttestamentarischen Fluch belegen.
    Am nächsten Tag fuhr ich aus der Stadt und fotografierte. Es war kalt, und ich war bald durchgefroren. Es gab nirgendwo ein Café, in dem ich mich aufwärmen konnte. Dennoch kehrte ich erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück.
    Ich ärgerte mich, daß ich zu den Eltern gefahren war. Wir hatten uns nichts zu sagen. Und ich wußte, ich würde in einem Jahr wieder zu ihnen fahren und im Jahr darauf und so fort, bis endlich der Tod uns scheiden würde. Ich würde immer wieder fahren und mich immer wieder über mich ärgern, und ich würde nicht den Mut aufbringen, eine Beziehung zu beenden, die längst erloschen war.
    Abends unterhielten wir uns zu dritt. Wir sprachen über meine Kindheit und frühere Bekannte in G., wo wir vor Jahren gelebt hatten. Vater war lustig und redselig wie nie, und Mutter schien glücklich zu sein. Mich wunderte, daß wir so gänzlich verschiedene Erinnerungen in uns trugen. Eine Zeit, die mich ängstigte und bedrückte, erschien ihnen heiter und angefüllt mit possierlichen Späßen und Anekdoten. Sie mußten glücklich gewesen sein, als ich so unglücklich war. Wir hatten uns nie verstanden.
    Es war ein angenehmer Abend mit meinen Eltern. Es war fast schön. Es gab nur eine kleine Verlegenheitspause, als Mutter mich fragte, was ich am nächsten Tag machen werde, und ich ihr antwortete, daß ich wieder losfahren wolle, um zu fotografieren.
    Als wir zu Bett gingen, umarmten und küßten wir uns. Wie damals. Damals, was jetzt so weit zurücklag, daß es mir unglaublich erschien.
    Am Sonntag kam Henry. Zu seinem breitkrempigen Hut trug er diesmal einen großkarierten, braunen Anzug. Ichhatte ihn so noch nie gesehen und konnte mich vor Lachen kaum auf den Beinen halten. Er sah aus wie ein Conférencier aus einer mittelmäßigen Show, und ich sagte es ihm. Er entgegnete, es sei sein Sonntagsanzug, und er hoffe, damit Effekt zu machen. Als wir ins Haus gingen, strich er mit der Hand über meinen Hintern und flüsterte, daß wir ganz schnell ins Bett sollten, um uns zu küssen.
    Mutter war selig, daß Henry kam. Sein Erscheinen hielt sie für einen Vertrauensbeweis, ein
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